Tempelreinigung oder vernünftiger Gottesdienst?

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Vor etwas über vier Jahren, am 20. Dezember 2019, trugen Schülerinnen und Schüler Stühle in die Melanchthonkirche. Nach einem knappen Dreivierteljahr des Ausweichens der Andachten in den AD-Saal wurde pünktlich zu Weihnachten der erste Gottesdienst in der frisch sanierten Kirche gefeiert. Und jede und jeder brachte sich seinen Platz selbst mit in die Kirche.

Heute kehrt sich dieses Bild um. Nach der Andacht werden die Schülerinnen und Schüler jeweils ihren Stuhl nehmen und aus der Kirche heraustragen. Eine Sanierung der Kirche steht – Gott sei Dank! – nicht schon wieder an. Es könnte sein, dass der frei gewordene Raum für eine Grundreinigung der Kirche genutzt wird. Eine Tempelreinigung gewissermaßen. Aber das ist nicht der eigentliche Anlass für das Hinaustragen der Stühle. Nein – es soll Platz geschaffen werden für Stände von verschiedenen Unternehmen aus der Umgebung.

Wie jetzt??? Hat nicht Jesus bei der Tempelreinigung die Händler und ihre Verkaufsstände hochkant rausgeworfen? Die Bibel überliefert, dass Jesus regelrecht randaliert hat, die Stände umgeworfen und die Händler angefahren: „Ihr habt eine Räuberhöhle aus dem Haus Gottes gemacht!“ Dabei hatten die Händler und Geldwechsler im Tempel durchaus eine Funktion für den Gottesdienst. Die Pilger, die teils von weither kamen und keine Möglichkeit hatten, Opfergaben nach Jerusalem mitzubringen, konnten diese direkt vor Ort  erwerben und dann gleich Gott darbringen. Das war eigentlich praktisch. Aber offenbar hatte Jesus den Eindruck, dass es mehr um das Geschäft ging als um die Ehre Gottes. Möglicherweise zeigt sich hier auch, dass der Opferkult als solcher von Jesus – wie von einigen seiner jüdischen Zeitgenossen – kritisch betrachtet wurde.

Wie dem auch sei: Die Stände, die zum Wochenende hier in der Kirche aufgebaut werden, dienen nicht dem Verkauf von Waren. Es handelt sich um Informationsstände für die Berufswahlmesse. Die Schülerinnen und Schüler der Mittel- und Oberstufe können sich dort über mögliche Berufsperspektiven informieren. Auch in diesem Fall handeln die Standbetreiber nicht völlig uneigennützig. Die Unternehmen haben ein Interesse an qualifiziertem Nachwuchs. Zugleich aber und vor allem haben unsere Schülerinnen und Schüler Bedarf an beruflicher Orientierung. Es können ja nicht alle Theologie studieren. Bei der Messe handelt es sich also um eine Bildungsveranstaltung. Und die hat auf einem Schulcampus ganz sicher den richtigen Ort.

Aber gilt das auch für die Kirche? Die Melanchthonkirche wird seit eh und je nicht ausschließlich für Andachten und Gottesdienste genutzt. Sie ist der größte Raum auf unserem Campus und darüber hinaus einer mit einer besonderen Atmosphäre. Deshalb wird sie zum Beispiel gerne für Konzerte genutzt. Diese bekommen durch den feierlichen Rahmen einen eigenen Charakter. Zuletzt konnten wir das bei den Weihnachtskonzerten und bei der Aufführung des Brahms-Requiems erleben. Aber auch Informationsveranstaltungen – zum Beispiel im Rahmen von Elternsprechtagen oder dem Tag der offenen Tür – finden hier in der Kirche statt. Und in diesem Zusammenhang gehört auch die Berufswahlmesse.

Dass in der Kirche Leben über Andachten und Gottesdienste hinaus stattfindet, ist ein Zeichen dafür, dass Leben und Glauben zusammengehören. Der Glaube ist kein isolierter Bereich, der mit dem übrigen Leben nichts zu tun hat. Im Gegenteil: Paulus schreibt im Römerbrief davon, dass das ganze Leben ein „vernünftiger Gottesdienst“ sein soll. Also auch das Arbeitsleben. Arbeit gehört laut der Bibel von Beginn des Daseins auf Erden jenseits des Paradieses zu den Bedingungen des Menschseins dazu. Und im zweiten Thessalonicherbrief fordert Paulus die Gemeindemitglieder ausdrücklich dazu auf, einer Arbeit nachzugehen.

Wenn es um die Frage geht, wohin sich unsere Schülerinnen und Schüler beruflich orientieren wollen, ist die Kirche deshalb vielleicht ein ganz besonders geeigneter Rahmen. Dieser besondere Ort kann daran erinnern, dass es im Leben und bei der Arbeit nicht in erster Linie darum geht, möglichst viel Geld zu verdienen. Es geht nicht um den schnellen Euro oder den schnellen Schekel, den die Händler im Tempel abgreifen wollten.

Es geht darum, eine Arbeit zu finden, die sinnstiftend für die einzelne Schülerin oder den einzelnen Schüler ist. Wo sie die Gaben, die sie mitbringen, besonders gut einbringen können. Wo sie in der Zusammenarbeit mit anderen einander ergänzen und etwas erreichen können. Wo sie mit ihren speziellen Gaben die Gemeinschaft bereichern können. Noch einmal Paulus, diesmal im ersten Korintherbrief: „Es sind verschiedene Gaben; aber es ist ein Geist. Und es sind verschiedene Ämter; aber es ist ein Herr. Und es sind verschiedene Kräfte; aber es ist ein Gott, der da wirkt alles in allen.“

Möge die Berufswahlmesse in diesem kirchlichen Rahmen den Schülerinnen und Schülern Schwung geben und ihnen Perspektiven für ihre berufliche Zukunft eröffnen. Möge Gott uns allen immer wieder Wege weisen, wie wir unser Leben als vernünftigen Gottesdienst gestalten können. Möge es uns zur Freude, den Menschen zum Nutzen und ihm zur Ehre sein.

Arnold Glitsch-Hünnefeld