Ein Ort, wo wir verwurzelt sind
Andacht zum Schuljahresende
Beeindruckende Entwürfe für Kirchen und andere Sakralräume haben wir gesehen. Eine Auswahl aus noch mehr Modellen, wie Ihr sehen könnt. Und Gedanken haben wir gehört, die sich Schüler*innen beim Erarbeiten ihrer Modelle gemacht haben. Und wie das bei klugen Gedanken so ist, haben sie mich zum Weiterdenken angeregt.
Hat es eine Bedeutung für unsere Schule, dass wir eine eigene Kirche auf dem Campus haben? Ich denke, ja. Auch wenn uns das vielleicht nicht immer so bewusst ist. Die Melanchthonkirche ist neben dem Schloss ein Wahrzeichen unserer Schule. Sichtbar wird: Das ist hier – auch – ein geistlicher Ort. Es gibt hier einen Ort, wo Menschen sich zurückziehen können. Zum Beten oder zum Meditieren vielleicht. Vielleicht auch nur, um zur Ruhe zu kommen.
In unserer Kirche finden – wie am vergangenen Wochenende – auch Konzerte statt. In unsere Gottesdienste und Andachten sind Musik und oft auch Kunst eingebunden. Glaube und Kultur begegnen sich. So wie in dem Sakralraum von Josi und Clara. Glaube ist nicht nur etwas für Hinterwäldler und Kulturbanausen. Glaube kann die Tiefe von Kultur erschließen. Und Kultur die Schönheit des Glaubens. Das gilt nicht nur für den christlichen Glauben, sondern für Religion ganz allgemein. Die Dimension der Tiefe, die ein christlicher Theologie wie Tillich die „religiöse“ nennt, steht sogar Menschen offen, die gar nicht an etwas Göttliches glauben. Manche Menschen werden ergriffen von der Schönheit des Sternenhimmels, der Natur oder der Naturgesetze. Und in dieser Tiefe können Menschen einander begegnen, berühren und bereichern.
Die Melanchthonkirche ist auch zu anderen Gelegenheiten ein Raum der Begegnung. Zum Beispiel bei den Entlassfeiern für unsere Realschulabsolvent*innen und unsere Abiturient*innen. Oder bei Informationsveranstaltungen wie zur Jugendwahl oder zum Populismus. Unsere Kirche – und genauso unsere Schule als Ganze – ist ein Ort für lebendigen Austausch. In ökumenischer Weite und über die Grenzen des Christentums hinaus. Zoé hat ihre Kirche „die Offene“ genannt. Das passt für einen Bildungsort wie den unseren besonders gut. Diese Offenheit ist für mich ein Ideal auch für unsere Schule.
Zugleich ist der Blick in unserer Kirche ausgerichtet. Wie in Zoés Kirche gibt es Kreuz, Altar und Taufbecken. Der christliche Glaube ist selbstverständlich anwesend. Er lädt dazu ein, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Kritisch oder auch, indem man sich – vielleicht probehalber – auf ihn einlässt. So ist unsere Kirche wie jeder Sakralraum auch ein Raum der Begegnung mit Gott.
In früheren Kulturen stellten sich die Menschen vor, ein Sakralraum – meistens ein Tempel – sei so etwas wie die Wohnung Gottes. Mit dieser Vorstellung setzt sich die Bibel kritisch auseinander. Von König David wird erzählt, dass er Gott einen Tempel bauen wollte, aber Gott es ihm verwehrt.
Gott wohnt nicht in einem Haus. Er hat sein Volk immer begleitet auf seinem langen Weg durch die Wüste. Er wird auch uns begleiten, wohin immer unser Weg uns führt. Deshalb wird in der Tora erzählt, dass Mose ein Zelt für Gott baute – die Stiftshütte. Dieses Zelt konnte man abbauen und mitnehmen, wenn das Volk weiterzog. Gott ist nicht an einen Ort gebunden, sondern überall.
Trotzdem weist Gott den Wunsch von König David nicht völlig zurück. Davids Sohn Salomo soll es gestattet sein, einen Tempel zu bauen. Deutlich ist: Nicht Gott braucht Sakralräume, sondern die Menschen. Für sie können sie einen Zugang zu Gott eröffnen. Nicht weil Gott in einem Tempel, einer Kirche oder einer Moschee wohnt, sondern weil in solchen Räumen immer wieder Gottesdienste gefeiert werden. Indem Menschen um die Bestimmung dieser Orte wissen, kommen sie Gott ein Stück näher. So tragen wir mit unseren Gottesdiensten und Andachten dazu bei, dass auch unsere Kirche ein heiliger Ort ist. Wir werden daran erinnert, dass wir nicht der Nabel der Welt sind, sondern dass Gottes Wirklichkeit viel weiter und größer ist, als unser Geist es zu fassen vermag. Etwas von dieser Weite und Größe mögen wir in den vor uns liegenden Ferienwochen erfahren.
Gefreut hat mich auch der Gedanke der Schönheit des Unvollendeten und Unvollkommenen in den Kirchen von Leo und Lukas. Leo hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass auch Menschen nicht vollkommen sein müssen. Sie können es gar nicht. Bei der Abifeier vor 1 ½ Wochen habe ich auf den Theologen Henning Luther Bezug genommen. Er begreift das menschliche Leben als Fragment. Wir sind niemals perfekt. Manchmal sind wir versehrt, wie die Kirche der Gruppe von Maurice. Manchmal scheitern wir auch an Dingen, die wir uns vornehmen. Das mag unbefriedigend sein. Aber eigentlich ist es ein Segen. Denn wir streben immer über das hinaus, was wir gerade sind. Wir sind auf Entwicklung auf Zukunft hin angelegt. Nicht nur Ihr Schüler*innen wachst – manchmal über Euch selbst hinaus. Auch wir Erwachsenen sind nicht fertig, sondern haben immer noch Entwicklungsräume. Auch daran mag uns unsere Kirche erinnern.
Für mich stellt sie beide Pole dar: Den Rückzugsort, ein Stück Heimat, die Zusage, dass wir einen Ort haben, wo wir verwurzelt sind. Und die Weite, die über uns hinausweist, die uns Entwicklungsräume öffnet, die uns daran erinnert, dass wir unterwegs sind. Wanderndes Gottesvolk auf dem Weg in Gottes verheißene Zukunft. Und wo immer wir sind – auf dem Schulcampus, zu Hause oder im Urlaub – Gott ist uns nahe.
Amen.
Arnold Glitsch-Hünnefeld