Mord im Orient-Express… was wirklich geschah!
Rückblick auf eine grandiose Aufführung
Man hält als Zuschauer erstmal die Luft an, wenn man als Nichtsahnender von einer unbekannten Lady auf Highheels mit „Ich hasse dich!“ beschimpft wird. Könnte man als Gast eines Theaterevents wirklich gemeint sein? Die Überforderung erreicht ihren Kulminationspunkt gleich in der darauffolgenden Szene des Vorspanns, in der 6 Unbekannte eine auf einem Gobelinsofa liegende Person mit 6 Messerstichen kaltblütig ermorden…
Und das nennt sich dann Schultheater?
Das „Schlosstheater“ der Evangelischen Schule in Gaienhofen hat sich in der Öffentlichkeit für außergewöhnliche Produktionen bereits einen Namen gemacht. „Etwas aufführen, was es schon gibt, können alle Theatergruppen – aber mit Schülern gemeinsam den gesamten Entstehungsprozess eines Werks, seines Bühnenbilds, der Outfits und der Textgestaltung gemeinschaftlich zu durchleben, das ist das Besondere“, erklärt Margit Schlenker, Leiterin der Theater AG erschöpft und zugleich stolz über drei gelungene Aufführungen am vergangenen Wochenende.
„Mord im Orient-Express – was wirklich geschah…“ lautete der vielversprechende Titel des Stücks, das auf zwei Zeitschienen konstruiert ist: Der Handlungsstrang im Jahr 1934 präsentiert in leicht abgewandelter Form das Geschehen aus dem wohl bekanntesten Kriminalroman von Agatha Christie. Ein weiterer Handlungsstrang spielt im Jahr 2024, also 90 Jahre nach dem (unaufgeklärten) Mord an Bord. Die Nachkommen der damaligen Fahrgäste sind zusammengekommen, um gemeinsam herauszufinden, wer damals der Mörder von Igor Borislav war und werden nach und nach gewahr, dass zahlreiche Personen mindestens eine Mitschuld tragen. Beide Handlungslinien sind durch eine für dieses Stück neu konzipierte Drehbühne ideal aufeinander abgestimmt und enthüllen im Wechsel zum einen den Aufklärungsprozess, zum anderen die diversen Umstände, die 1934 zum Mord geführt haben. Selbst eine kleine Lovestory hat sich eingeschlichen…
Epochenmarker sind zum einen die originellen und liebevoll ausgewählten Kostüme, die kunstvollen Hochsteckfrisuren der Damen sowie diverse Accessoires, die die Zuschauer in die 30er Jahre entführen. Zum anderen weiß man sich in unserer Zeit, wenn zwei flippige Influencerinnen jeden Moment ihrer Reise (und anderes!) per Selfiestick im Livestream mit der Öffentlichkeit (dem Publikum!) teilen, wenn selbst das Handy eine große Rolle spielt und die Reisenden ihre psychischen Hemmnisse von dem (eigentlich im Urlaub befindlichen) „Therapist“ coachen lassen oder über die Flachwitze des Comedians nicht einmal müde lächeln können.
Was die Zuschauer am meisten faszinierte, waren sicherlich die Schauspieler. Sie präsentierten sich mit großer Textsicherheit, ungekünstelter Ausstrahlung, Spielfreude und mitreißender Ausdrucksstärke in ihren Rollen, die maßgeschneidert waren, da die Schüler sie größtenteils selbst entwickelt hatten. Sie überzeugten als epische Erzähler, beherrschten Parodie und Simultantechnik und nutzten ihre Stimmregister geschickt und unaufdringlich aus und erweckten ihre Rolle damit zum Leben.
Zahlreiche Songs bereichern die ohnehin schon beeindruckend dichte Handlung – auch sie sind mehrheitlich von Schülern selbst bearbeitet und einstudiert worden.
Der Erfolg des Schlosstheaters ist auch auf die Unterstützung vom Siemen Rühaak zurückzuführen, Schauspieler und Grimme-Preisträger und seit Jahren bereits guter Freund der Theater-AG der Schule. Er probte eine Woche mit den Schülern in der Toskana und war eine Woche als Gast in der Schule, was sich in der hohen Professionalität der Schauspieler bemerkbar machte.
Wenn man dann am Ende als Zuschauer meint, die Wirrungen durchschaut zu haben, die zu dem geneinschaftlichen Rachemord an Igor geführt hatten, erscheint dieser als blutverschmierter Geist – dazu verdammt im Orientexpress bis heute spuken zu müssen – und beteuert nie ein Mädchen umgebracht zu haben. Er bringt damit alle Mittäter in Gewissenskonflikte – doch der point of no return ist überschritten. Das Schlosstheater hatte sich für ein versöhnliches Ende entschieden: Igor wird von dem Fluch freigesprochen – eine Wortcollage beendet das zweieinhalbstündige Schauspiel, die die fatalistische Verbindung von Tod und Leben, Liebe und Hass, Wahrheit und Lüge stehenlässt.