Vor-Urteile oder Vor-Annahmen
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In diesen ersten Wochen des Schuljahres haben viele von uns es mit neuen Gesichtern zu tun. Einige Schüler*innen sind neu an unsere Schule gekommen. Nicht nur die Fünftklässler*innen oder Schüler*innen der Eingangsklassen, sondern manche sind kürzlich hier in die Gegend gezogen oder haben aus anderen Gründen die Schule gewechselt. Manche haben auch nur die Klasse gewechselt. Und viele Klassen oder Kurse haben neue Lehrer*innen bekommen. Für die einen bedeutet es, dass sie sich in ihrer vertrauten Gruppe an ein neues Gesicht oder einige wenige gewöhnen müssen. Auf die Neuen kommen ganz viele neue Gesichter zu.
Was passiert, wenn Menschen einen anderen Menschen zum ersten Mal sehen? In der Regel stellt sich unwillkürlich ein erster Eindruck ein. Das ist unvermeidlich. In früheren Zeiten konnte es sogar überlebensnotwendig sein, schnell zu entscheiden, ob man einen freundlich oder einen feindlich gesinnten Menschen vor sich hat. Doch der erste Eindruck kann täuschen. Einige von Euch werden den Menschen auf dem Bild kennen, das ich gleich zeige. Die bitte ich, sich zurückzuhalten und nicht zu verraten, wer es ist. Ihr anderen: Wie wirkt dieser Mann auf Euch? Hättet Ihr gedacht, dass das Bild einen der genialsten Köpfe unserer Zeit, nämlich den Physiker Stephen Hawking, zeigt?
Der erste Eindruck ist oft trügerisch. Deshalb gelten Vorurteile als etwas Negatives und es wird oft gefordert, vorurteilsfrei auf fremde Menschen zuzugehen. Das ist grundsätzlich richtig. Aber es lohnt sich, etwas genauer hinzuschauen. Denn wie gesagt: Dass wir uns unwillkürlich ein erstes Bild von den Menschen machen, denen wir begegnen, ist unvermeidlich. Entscheidend ist, wie wir mit diesen ersten Bildern umgehen.
Die Bibel erzählt, dass Samuel sich zunächst vom Äußeren leiten lässt, als er einen neuen König für Israel salben soll. Spontan will er den größten der Söhne Isais, den Eliab, salben. Aber Gott hält ihn zurück und sagt: „Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an.“ Gott weiß, dass gerade der Kleinste der Söhne Isais, David, der wahre König ist. Was er zu Samuel sagt, ist eine indirekte Aufforderung – auch an uns: Urteilt nicht nach dem ersten Eindruck. Schaut genauer hin. Nehmt euch die Zeit, einen Menschen genauer kennen zu lernen.
Es ist nicht falsch, einen ersten Eindruck von einem anderen Menschen zu haben. Entscheidend ist, wie man mit diesem ersten Eindruck umgeht und ob man bereit dazu ist, diesen Eindruck zu ändern, wenn man den Menschen besser kennenlernt. Das unterscheidet ein Vorurteil von einer Vorannahme. Ein Urteil steht am Ende eines Prozesses und ist damit end-gültig. Das Wort „Vor-Urteil“ legt also nahe, dass es nur schwer zu korrigieren ist. Also ein vorschnelles Urteil. Das Wort „Vor-Annahme“ gefällt mir auch deshalb besser, weil darin „Annehmen“ steckt. Also eine – noch nicht endgültige – Vermutung über mein Gegenüber und zugleich die grundsätzliche Bereitschaft, mein Gegenüber anzunehmen.
Ein erster Eindruck lässt sich dann leichter korrigieren, wenn ich mir darüber klar werde, woher er kommt. Da können prägende Erlebnisse eine Rolle spielen. Wenn ich schlechte Erfahrungen mit einem Menschen eines bestimmten Typs gemacht habe, dann reagiere ich unwillkürlich erst mal mit Misstrauen, wenn ich einem Menschen begegne, der so ähnlich aussieht. Wenn mir das klar ist, kann ich mein Misstrauen leichter ablegen. Oft spielen auch Prägungen durch die Familie oder durch Freunde eine Rolle. Meist geht es dann um Vorurteile gegenüber Menschen aus einer bestimmten Kultur oder einem bestimmten Milieu. Aber auch das sind vorschnelle Urteile, wenn sie auf alle Angehörigen dieser Kultur oder dieses Milieus übertragen werden.
Manchmal sorgt auch schlicht das Fremde an anderen Menschen für Verunsicherung: Ihre Hautfarbe, ihre Sprache oder ihr Auftreten. Das darf sein, solange ich sie nicht auf ihr Fremdsein festnagele. Von Jesus erzählt die Bibel, dass er sich mindestens einmal auch mit einer Fremden schwergetan hat. Als ihn eine kanaanäische Frau bittet, ihre Tochter zu heilen, ignoriert er sie zuerst. Und als seine Jünger ihm zureden, ihr zu helfen, sagt er zunächst, dass er nur für die Kinder Israels gesandt sei. Aber die Frau lässt nicht locker und drückt ihr Vertrauen in ihn aus. Davon lässt Jesus sich anrühren und hilft der Frau. Er erkennt „Dein Glaube ist groß“ und fährt fort: „Dir geschehe, wie Du geglaubt hast.“
Die Angst vor dem Fremden prägt gegenwärtig die Stimmung bei vielen Menschen in unserer Gesellschaft. Und sie sorgt dafür, dass Herzen eng werden und möglichst viele Fremde aus Deutschland draußen gehalten werden sollen. Ich habe manchmal den Eindruck, dass diese Angst umso größer ist, je weniger Menschen mit fremden Menschen in Kontakt kommen. Deshalb ist ein neues Schuljahr ein gutes Übungsfeld. Wir dürfen unsere ersten Unsicherheiten wahrnehmen. Wir lernen neue Menschen kennen und können entscheiden, inwiefern unsere Vorannahmen zutreffend waren oder eben nicht. Wir können mutig und empathisch aufeinander zugehen. Wir können den Reichtum entdecken, der darin liegt, mit ganz verschiedenen Menschen in Kontakt zu kommen. Gott gebe uns den Mut dazu und segne unsere Begegnungen.
Arnold Glitsch-Hünnefeld