Prometheus, Engel und wir

Mittwochsandacht_online

Tomi Lindner, Prometheus / Engel Baglis

In der Ausstellung, die seit 1 ½ Wochen nebenan im Gemeindehaus zu sehen ist, werden diesmal keine Bilder, sondern Plastiken gezeigt. Um Freiheit geht es dem Künstler, Toni Lindner, mit diesen Plastiken. Der Titel der Ausstellung ist „Mach dich frei.“

Ich habe mir für diese Andacht zwei Plastiken ausgesucht. „Prometheus“ heißt die erste. Ich sehe einen Engel. Die Flügel sind zerrissen, der Körper ist zerschlagen. Übergroße Nägel durchbohren seine Flügel und fesseln ihn an einen Steinblock. Das Gesicht ist sehnsuchtsvoll dem Himmel entgegengestreckt. Die Nägel und die Haltung erinnern an den gekreuzigten Christus.

Der Titel der Plastik, „Prometheus“, weist auf eine andere Spur. In der Sage entstammt Prometheus dem Geschlecht der älteren Götter, die von Zeus entmachtet wurden. Er macht sich zum Anwalt der Menschen, die er mit Hilfe der Athene erschaffen hat. Wie Traumgestalten wandeln sie in einer sinnentleerten Welt. Prometheus vermittelt ihnen Wissen. Zeus möchte die Menschen als willenlose Diener halten, doch Prometheus bringt ihnen das Feuer und damit den entscheidenden Schritt zur Zivilisation. Zur Strafe lässt Zeus Prometheus an einen Felsen ketten, wo täglich ein Adler kommt und an seiner Leber frisst.

Der Künstler legt der Plastik ein Zitat des Schriftstellers Franz Werfel bei. Demnach steht Prometheus für die Menschheit, die an die Erde gekettet ist und vom Zweifel zerfressen wird. In einer ausführlicheren Deutung der Plastik steht Prometheus für das Streben, die Ketten der Unwissenheit zu durchbrechen, und für die Kosten, die damit verbunden sind.

Prometheus ist ein Zwischenwesen. Er steht zwischen den Göttern und den Menschen. Doch er bindet sich an die Menschen, um ihnen Erkenntnis und Freiheit zu ermöglichen. „Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten“ heißt es in der Bibel im Jesajabuch. „All meine Glieder haben sich zertrennt“ heißt es in Ps 22, dessen Anfang Jesus am Kreuz schreit. Vielfältige Querverbindung zu biblischen Motiven ergeben sich. Prometheus, der gottgegebene Grenzen überschreitet wie Adam und Eva im Paradies oder die Menschen beim Turmbau zu Babel. Prometheus, ein Wesen zwischen den Sphären des Göttlichen und des Menschlichen, in der Plastik gestaltet wie ein Engel.

Toni Lindner hat auch mehrere Engel modelliert. Einer davon ähnelt dem Prometheus auffallend: Baglis, der Engel des Ausgleichs und der Mäßigung. Auf den ersten Blick ein Gegensatz zu Prometheus. Jenen bestraft Zeus für seine vermeintliche Maßlosigkeit. Von einem Ausgleich kann keine Rede sein. Aber auch bei dem Engel geht es um die Überwindung irdischer Grenzen. Es geht um Harmonie in der Unterschiedlichkeit. Schwerelos schwebt der Engel zwischen den Sphären. Geerdet durch die Flügel, die den Boden berühren, dem Himmel entgegen. Eine Bewegung, die Prometheus den Menschen ermöglichen möchte.

Der entscheidende Unterschied zwischen der griechischen Sage und den biblischen Erzählungen von Engeln ist das Gottesbild. Zeus wird als eifersüchtiger Despot gezeichnet, dem die Menschen nicht am Herzen liegen. Sie sollen nur seine Bedürfnisse befriedigen. Deshalb stemmt er sich dagegen, dass Prometheus den Menschen Erkenntnis und Freiheit ermöglicht. Der Gott der Bibel dagegen liebt die Menschen. Er sendet ihnen Engel, um sie zu stärken, zu leiten und zu behüten. „Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen.“ Von Elia wird erzählt, dass ihm, als er am tiefsten Punkt einer Depression ist, Gott einen Engel sendet, der ihn mit frischem Brot und Wasser stärkt und seine Schritte wieder auf den Weg lenkt.

Die Plastiken von Toni Lindner laden dazu ein, sich mit ihnen zu identifizieren. Wie Prometheus können wir uns für Erkenntnis und Freiheit einsetzen. Als Christen brauchen wir dabei keine göttlichen Strafen zu fürchten. Im Gegenteil: Gott sendet uns, dass wir einander zu Engeln werden sollen. Dass wir anderen Menschen zu Boten Gottes werden, ihnen eine Verbindung zu Gott anbieten. Dass wir Menschen stärken, die am Boden sind, und ihnen Orientierung geben. Dass wir Anwälte der Menschen und der Menschlichkeit werden.

Das kostet manchmal etwas. Dazu kann es nötig sein, aufmüpfig zu sein. Gegen Mächte und Menschen aufzubegehren, die andere Menschen klein halten wollen. Durch Mobbing oder Ungerechtigkeit. Dieser Einsatz fordert uns mit unserer Persönlichkeit und manchmal müssen wir dafür auch einstecken. Ein anderer Engel von Toni Lindner hat Versehrungen davongetragen. Und doch fliegt er. Und die Flügel wieder eines anderen strahlen, als könne er mit ihnen Erde und Himmel umarmen.

Gott traut Euch zu, Engel zu sein. Er traut Euch zu Euch mit Euren Flügeln über Euch selbst zu erheben, einander unter Euren Flügeln Schutz zu geben und Euch – gut geerdet – seinem Himmel zu öffnen. Traut ihm und traut Euch selbst.

Arnold Glitsch-Hünnefeld