Die „schweigende Mehrheit“ schweigt nicht mehr

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Mittwochsandacht am 24.01.2024

In den vergangenen Tagen sind Hunderttausende in Deutschland auf die Straßen gegangen. Manch Demonstration war so groß, dass sie aus Sicherheitsgründen beendet werden musste. Viel mehr Menschen kommen zusammen, als selbst die Veranstaltenden der Kundgebungen erwartet haben. Die schweigende Mehrheit schweigt nicht mehr.

Was ist geschehen? Es ist bekannt geworden, dass es in Potsdam ein geheimes Treffen von Rechtsextremisten aus verschiedenen Kreisen – unter anderem auch der AfD – gegeben hat. Bei diesem Treffen wurden Zukunftspläne für Deutschland geschmiedet. Ein Kerninhalt war, dass scharenweise Menschen aus Deutschland vertrieben werden sollen. Konkret ging es um Menschen mit einem Migrationshintergrund, also Menschen, die entweder selbst oder deren Familien irgendwann aus einem anderen Land nach Deutschland eingewandert sind. „Remigration“ nennen ihre Vordenker diese Vertreibung. Das Wort wurde zu Recht zum Unwort des Jahres gewählt. Es verschleiert auf ähnlich infame Weise die Wahrheit, wie wenn die russische Regierung den Krieg in der Ukraine eine „Spezialoperation“ nennt.

Offenbar war das Treffen in Potsdam der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Die Bedrohung unserer Demokratie, unseres Rechtsstaates und unserer Freiheit von rechts ist ja nicht neu. Aber offenbar sind es die Pläne aus Potsdam, die die Menschen auf die Straße treiben. Sie wollen zeigen: „Das sind nicht wir! Auch wenn die Rechten immer wieder behaupten, sie seien ‚Volkes Stimme‘: Sie sind es nicht! Wir wollen keine menschenverachtende Politik und wir wollen keine ‚identitäre‘ Ideologie einer homogenen deutschen ‚Rasse‘.“

Gott sei Dank! Alles andere wäre mit dem christlichen Glauben nicht vereinbar. Auch wenn der Begriff des „christlichen Abendlandes“ von rechts missbraucht wird. In der Bibel kommt den Fremden ein besonderer Schutz zu. Auch und gerade in der Hebräischen Bibel – unserem Alten Testament. An dieser Stelle sei auch noch einmal festgehalten, dass sich Antisemitismus für Christen verbietet. Ohne das Judentum gäbe es uns Christen nicht.

Ein Geheimtreffen in Potsdam, Großdemonstrationen, das Thema Rechtsextremismus ist wohl auch in den letzten Köpfen angekommen. Schüler fragen, was es damit auf sich hat. Ihr Informationsstand ist sehr unterschiedlich.

Direkt im Anschluss an die Andacht, gingen deshalb Lehrkräfte mit den Schülern ins Gespräch, sammelten, was die Schüler in diesem Zusammenhang bewegt und informierten – wo nötig – über die Zusammenhänge.

Hier ein Auszug aus den Statements der Klassen und Kurse.

In Juda gab es in der Zeit, als viele der biblischen Texte aufgeschrieben wurden, viele Fremde. Viele waren aus Israel, dem nördlichen Nachbarland geflohen, als dieses von dem Großreich der Assyrer erobert und zerstört wurde. Die Parallele zu unserer Gegenwart mit Menschen, die vor Krieg, Unterdrückung und aus anderen Gründen zu uns geflohen sind, liegt auf der Hand.  Die Menschen lebten zum Teil seit Generationen in Juda und pflegten immer noch ihre eigenen Traditionen. Die Menschen aus dem ehemaligen Nordreich wurde Samariter genannt – nach Samaria, der zerstörten Hauptstadt Israels.

In den Texten der Hebräischen Bibel wird mehrfach betont, dass einerlei Recht gelten soll für Fremde und für Einheimische. Für Fremde soll ebenso gesorgt werden wie für Witwen und Waisen – also allgemein für Menschen in wirtschaftlichen Notlagen. Im selben Kapitel des dritten Buches Mose, in dem das Nächstenliebegebot steht heißt es: „Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der Herr, euer Gott.“ (Lev 19,34f)

Ich will aufstehen, ich will demonstrieren. Ich gestalte eine Menschengruppe, der ich mich anschließe und mich damit gegen den Gedanken wende, Menschen auszuweisen. Ich bin selbst ein Integrierter und nach 47 Jahren das zu hören, tat weh. Ich werde demonstrieren gegen menschenfeindliche Gedanken – in einem Land, das mir Heimat geworden ist. (A. Zecca)

„Ihr seid selbst Fremdlinge gewesen.“ Die Juden sind sich dessen bewusst, dass auch sie einen Migrationshintergrund haben. Dass auch ihre Vorfahren einst auf die Gastfreundschaft anderer Menschen angewiesen waren. Das gilt ganz genauso für viele „Biodeutsche“. Meine Mutter musste im zweiten Weltkrieg aus Ostpreußen fliehen. Migration hat es immer gegeben und wird es immer geben. Die Idee homogener Völker, die für immer und allezeit an einen bestimmten Ort gehören, leugnet die Geschichte.

Dass Nächstenliebe nicht an den Grenzen der Familie, des Freundeskreises oder der Nation endet, macht Jesus z.B. mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter klar. Und auch Paulus schreibt z.B. im Galaterbrief: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ (Gal 3,28) Letztlich ist der Gedanke, dass alle Menschen gleich viel wert sind und die gleiche Würde besitzen schon in der Schöpfungsgeschichte angelegt. „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde.“ (Gen 1,27) Es heißt nicht, Gott schuf den Juden oder den Mann oder den Arier zu seinem Bilde, sondern den Menschen.

Wo dieses elementare Menschenbild verletzt und in Frage gestellt wird, können Christen dazu nicht schweigen. Dietrich Bonhoeffer hat im Juni 1933 – also ziemlich am Anfang der Naziherrschaft – einen Aufsatz geschrieben: „Die Kirche vor der Judenfrage“. Darin schreibt er, dass es drei Stufen der Einmischung gibt, die von der Kirche gefordert sind, wenn der Staat Unrecht tut. Die erste ist, den Staat nach seinen gesetzlichen Grundlagen und seiner Verantwortung zu fragen. Zweitens der Dienst an den Opfern. Bonhoeffer schreibt: „Die Kirche ist den Opfern jeder Gesellschaftsordnung in unbedingter Weise verpflichtet, auch wenn sie nicht der christlichen Gemeinde zugehören. Die dritte Möglichkeit besteht darin, nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen.“ Für Bonhoeffer bestand dieser dritte Schritt darin, dass er sich an Plänen für ein Attentat auf Adolf Hitler beteiligte und das mit seinem Leben bezahlte.

Noch ist es bei uns nicht soweit. Wir leben in einer Demokratie mit rechtsstaatlichen Prinzipien. Wir leben in einer vielfältigen Gesellschaft, die sich aus Menschen mit unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlichen kulturellen Hintergründen und unterschiedlichen persönlichen Geschichten zusammensetzt. Auch und gerade an unserer Schule. Die Zahl der Nationalitäten in unserer Schulgemeinde liegt im zweistelligen Bereich. Wir können Tag für Tag erfahren, welcher Reichtum darin liegt. Diesen Reichtum gilt es zu erhalten. Demokratie und Freiheit gilt es zu verteidigen. Die gegenwärtigen Demonstrationen entsprechen der ersten von Bonhoeffers drei Stufen der Einmischung. Wenn die nicht mehr schweigende Mehrheit in Deutschland für Freiheit und Menschenliebe eintritt, dann werden die weiteren Stufen hoffentlich nicht nötig werden. Deshalb lasst uns gemeinsam und mutig für Freiheit und Menschenliebe eintreten.

Arnold Glitsch-Hünnefeld