Manchmal fühle ich mich fremd
Mittwochsandacht_online

Quelle: Pixabay (Fotograf: Gerd Altmann)
Manchmal fühle ich mich fremd. Dabei bin ich doch hier zu Hause. Ich kenne die Wege in und um Gaienhofen. Ich habe eine Familie. Ich habe hier Freunde. Ich habe Kolleg*innen, die mir Wertschätzung entgegenbringen, und Schüler*innen, die mir am Herzen liegen.
Trotzdem fühle ich mich manchmal fremd. Mir selbst gegenüber. Ich tue Dinge, die nicht zu meinem Bild von mir selbst passen. Ich mache bösartige Sprüche, von denen ich genau weiß, dass sie andere verletzen. Oder ich sehe, dass jemand meine Hilfe oder meinen Zuspruch bräuchte, aber ich bin zu träge oder zu unsicher und überlasse sie ihren Problemen. Danach schäme ich mich und bin mit mir selbst nicht im Reinen. Vielleicht habt Ihr das auch schon erlebt.
Manchmal fühle ich mich auch fremd inmitten dieser mir doch vertrauten Menschen. Ich weiß nicht, was ich mit ihnen reden soll. Dann verstecke ich mich hinter meiner Arbeit oder gebe mich anderweitig beschäftigt. Manchmal würde ich die Menschen neben mir gerne etwas zu ihrer Person fragen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ihnen das überhaupt recht wäre. Und dann lasse ich es, obwohl sie sich wahrscheinlich eher über mein Interesse freuen als über meine Neugier ärgern würden. Vielleicht kennt Ihr solche Situationen ja auch.
Wie mag es erst Menschen gehen, die in einem anderen Land geboren sind, eine andere Sprache als Muttersprache gelernt haben, in einer anderen Kultur aufgewachsen sind? Wie mag es ihnen gehen, wenn sie erleben, dass immer mehr Menschen in diesem Land fordern, Migration zu begrenzen und Asylbewerber an der Grenze abzuweisen. Wie mag es ihnen gehen, wenn sie in einen Topf geworfen werden mit Menschen, die furchtbare Verbrechen begangen und unschuldige Menschen getötet haben wie in Magdeburg oder Aschaffenburg? Wie mag es ihnen gehen, wenn sie den Eindruck gewinnen, dass Menschen mit einem Migrationshintergrund in Deutschland nicht mehr willkommen sind?
Manchmal fühle ich mich fremd in meinem Land. Wenn die Grundfesten der Rechtsstaatlichkeit plötzlich in Frage stehen. Wenn das Grundrecht auf Asyl faktisch abgeschafft werden soll. Wenn zu diesem Zweck Mehrheiten im Bundestag geschmiedet werden, die nur unter Beteiligung einer Partei zustande kommen, die vom Verfassungsschutz als in Teilen gesichert verfassungsfeindlich eingestuft wird.
Dass ich mich in Deutschland zu Hause fühle, dass dieses Land für mich Heimat ist, hängt für mich wesentlich mit unserer Verfassung, unserem Grundgesetz zusammen. Die Werte, die ihm zu Grunde liegen, habe ich von klein auf vermittelt bekommen. Sie sind für mich ein Fundament, auf dem ich mich sicher bewegen kann. In einem Land, das von diesem Geist geprägt ist, möchte ich leben.
Nicht zuletzt deshalb, weil der Geist des Grundgesetzes mit Kernaussagen des biblisch-christlichen Glaubens übereinstimmt. Zum Beispiel mit dem Nächstenliebegebot: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Dass zu diesen Nächsten auch die Fremden gehören, kann ich nicht oft genug betonen. „Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst“ heißt es im selben Kapitel des 3. Buches Mose.
Die Begründung für dieses Gebot führt mich zurück zum Thema dieser Andacht: „Denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der Herr, euer Gott.“ Das ist ein Gedanke, der in der Tora immer wieder aufgegriffen wird. Er prägt das Selbstverständnis des Volkes Gottes. „Ihr seid Fremde gewesen.“ Ihr wisst, was das bedeutet. Es ist Teil eurer Identität. Fremdheit ist euch nicht fremd. Ihr wisst, wie wichtig es ist, mit offenen Armen angenommen zu werden, gerade wenn man irgendwo fremd ist.
Ich bin an den vielen Orten, wohin mich mein Weg schon geführt hat, mit offenen Armen empfangen worden. Hier an der Schule haben mich vor sechs Jahren Kolleg*innen unter ihre Fittiche genommen und mir alles gezeigt, was ich wissen musste. Und auch heute noch: Wenn ich Fragen habe oder Hilfe brauche, gibt es immer Menschen, die ich ansprechen kann. Auch meine Schüler*innen sind freundlich zu mir und haben z.B. Verständnis, wenn ich mal nicht so gut vorbereitet bin. Das wärmt mir das Herz. Diese Verbundenheit hilft mir, mein gelegentliches Gefühl von Fremdheit zu überwinden und mich angenommen zu fühlen. Dann bin ich mir auch selbst nicht mehr fremd.
Wir haben an unserer Schule eine große Vielfalt – unter den Schüler*innen und im Kollegium. Verschiedene Typen, Begabungen, Geschmäcker etc. kommen hier jeden Tag zusammen. Und unsere Schule vereint eine Vielfalt von Ländern aus denen Schüler*innen und Kolleg*innen oder ihre Eltern stammen. Bei Manchen sieht man es an der Hautfarbe oder hört es an der Sprache. Und noch viele Andere haben Wurzeln in anderen Ländern. Sie alle sollen sich bei uns willkommen fühlen. An unserer Schule und in unserem Land.
Da, wo wir Fremdheit überwinden, da wo aus Fremden Nächste werden, da ist Gott mitten unter uns. Da können wir seine Gegenwart spüren. Da sind wir zu Hause.
Arnold Glitsch-Hünnefeld