Insel der Seligen?
Mittwochsandacht_online
„Tim“, das Lied, das wir gerade gehört haben, basiert auf der wahren Geschichte eines Schülers, der gemobbt wurde und sich das Leben genommen hat. Die Sprüche im Text sind Originalzitate von Mitschülern, nachdem er sich umgebracht hatte. Hilflose Versuche, sich von der Schuld freizusprechen.
So etwas gibt es bei uns natürlich nicht. Wirklich nicht? Wer meint, Schloss Gaienhofen sei eine Insel der Seligen, der irrt. Bei uns ist zwar kein Schüler in den Tod getrieben worden. Aber zuletzt sind Vorfälle von Mobbing und Gewalt an unserer Schule bekannt geworden. In einem Fall ist das soweit gegangen, dass die Polizei ermittelt. Und mit einiger Sicherheit bekommen wir Lehrkräfte gar nicht alles mit, was so passiert – in den Pausen, an der Bushaltestelle, auf dem Heimweg. Das hat damit zu tun, dass es um die Gewalt herum eine Kultur des Schweigens gibt. Mitschüler*innen, die Zeuge von solchen Vorfällen werden, trauen sich nicht, das zu melden. Zum Teil, weil ihnen damit gedroht wird, dass sie dann selbst damit zu rechnen haben, Opfer zu werden.
Gewalt muss nicht immer Schläge bedeuten. Auch das Herabwürdigen mit Worten oder das gezielte öffentliche Bloßstellen von anderen sind Formen von Gewalt. Mobbing – egal ob im direkten Kontakt oder Cybermobbing in den sozialen Medien – kann Menschen zerstören. Nein, bei uns ist noch kein Schüler in den Tod getrieben worden. Gott sei Dank! Wer von uns wollte mit so einer Schuld weiterleben und zu solch hilflosen Ausflüchten wie in dem Lied greifen müssen?
Beim Mobbing gibt es verschiedene Grade der Beteiligung: Die Anführer, die Mitläufer und die Wegschauer. Was das Motiv der Anführer ist, die sich ein Opfer aussuchen und Verbündete, die mit ihnen das Opfer quälen, darüber kann ich nur spekulieren. Brauchen sie es, sich überlegen zu fühlen? Aber das Gefühl der Überlegenheit geht vorüber und was bleibt, sind ein schlechtes Gewissen und billige Ausreden. Suchen sie Anerkennung? Aber Anerkennung, die auf Angst basiert, ist doch nicht echt. Geht es ihnen um Macht? Wahrscheinlich. In jedem Fall scheinen sie irgendetwas ausgleichen zu müssen. Etwas, was sie unglücklich macht und unzufrieden mit sich selbst. Bei Licht betrachtet ist Gewalt ziemlich armselig.
Mitläufer wollen zu der angesagten Clique dazu gehören. Ich habe als Jugendlicher aus diesem Grund mal mitgemacht, als einer gemobbt wurde. Wenn ich daran denke, schäme ich mich noch heute. Diese Scham ist es, was bleibt, und nicht die Zugehörigkeit zu der Clique. Eine Clique von Mobbern ist es ohnehin nicht wert, dazugehören zu wollen.
Die Wegschauer haben schlicht Angst. Das ist völlig nachvollziehbar. Aber sie sollen wissen, dass wir Lehrerinnen und Lehrer vertraulich behandeln, was sie uns anvertrauen. Wir tragen Sorge dafür, sie als Personen herauszuhalten, wenn wir den Fällen von Mobbing und Gewalt nachgehen, die sie uns mitteilen. Aber wenn wir nichts davon mitbekommen, können wir nicht reagieren, weil vieles eben im Verborgenen abläuft. Deshalb möchte ich Euch Mut machen. Wendet Euch an uns, wenn ihr Zeugen von Mobbing werdet oder wenn ihr selbst zum Opfer gemacht werdet. Kommt zu mir, Frau Erler oder einer Lehrkraft Eures Vertrauens.
Und: Schließt Euch zusammen. Bildet Gemeinschaften gegen die Mobber. Werdet ihr zu den attraktiven Gruppen, die angesagt sind, weil es wirklich gut tut dazuzugehören. Ihr verbringt einen großen Teil Eurer Zeit an der Schule. Fragt Euch: „In was für einem Umfeld wollen wir leben?“ In einem Klima der Angst oder in einer Umgebung, wo ich mich sicher, angenommen und anerkannt fühle? Wo ich gerne, aufrecht und mit freiem Blick hingehe? Wo sogar die sich angenommen fühlen können, die es jetzt noch nötig haben, andere klein zu machen?
Es gab mal einen Song, der hieß „Es ist geil ein Arschloch zu sein“. Falsch! Es ist geil, kein Arschloch zu sein. Es fühlt sich gut an, in den Spiegel schauen zu können, ohne einen Kotzbrocken zu sehen. Anerkannt und respektiert zu werden, dafür dass ich anderen Menschen ihr Lebensglück gönne und dazu beitrage.
Wir haben hier gute Voraussetzungen dafür, menschlich miteinander umzugehen. Ich begegne hier tagtäglich vielen tollen Menschen, bei denen ich mich gut aufgehoben fühle. Wir haben eine Umgebung, die zu einem entspannten Miteinander beitragen kann. Und wir arbeiten an einem Profil, dass sich Jesus Christus orientiert.
Von Jesus wird erzählt, dass er selbst Außenseiter in seiner Heimatstadt Nazareth war. Die Menschen kamen nicht klar damit, dass er so besonders war. Aber für viele andere waren seine Botschaft und sein Umgang mit Menschen so attraktiv, dass sie dazugehören wollten. Immer mehr Menschen folgten ihm nach. Und das weit über seinen Tod hinaus bis heute.
In seinen Seligpreisungen vermittelt Jesus eine Ahnung davon, warum es für Menschen so attraktiv war, ihm nachzufolgen. Ich greife vier von ihnen heraus.
Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen. Menschen, die sich aktiv für ein friedliches Miteinander einsetzen. Nicht diejenigen, die jedem Streit aus dem Weg gehen, sondern die Streit schlichten und zu Versöhnung beitragen. Ihnen werden die Wertschätzung und die Anerkennung dafür zuteil, dass sie sichtbar aus Gottes Geist leben.
Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Menschen, die anderen Menschen mit einem weiten Herzen begegnen, die fehlertolerant sind und sich vom Schicksal ihrer Mitmenschen anrühren lassen, bekommen etwas von dieser Haltung zurück.
Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen. Nicht die, die mit Gewalt ihre Interessen durchsetzen, werden das Erdreich besitzen. Kurzfristig vielleicht. Langfristig zerstören sie aber jeden lebenswerten Lebensraum. Die, die behutsam mit ihren Mitmenschen und mit der Schöpfung umgehen, haben eine nachhaltige Zukunft.
Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen. Wer mit sich selbst und mit den anderen im Reinen ist, der hat einen freimütigen Blick – auf Gott, auf seine Mitmenschen und auf sich selbst.
Wir sind keine Insel der Seligen. Dass unsere Schule eine Insel sein möge, wünsche ich mir auch gar nicht. Wir sind Teil der Gesellschaft und das ist auch gut. Aber, dass der Geist der Seligpreisungen unseren Umgang hier auf dem Campus und über die Grenzen unserer Schule hinaus prägt, das wünsche ich uns allen.
Arnold Glitsch-Hünnefeld