Ehrfurcht vor dem Leben
Mittwochsandacht_online

Das „Bild des Monats“ im Schaukasten im Campusbau hat diesmal eine politische Botschaft. Eine rote Hand erregt Aufmerksamkeit und aus „Es war nur ein kleiner Schlag“ wird durch sichtbare Streichungen „Es war ein Schlag“. Das Plakat macht auf Gewalt gegen Frauen aufmerksam.
Kunst hat etwas zu sagen. Das bekommen wir nicht zuletzt hier in der Schule immer wieder vor Augen geführt. In der J2 des BG und in der 10d haben Schüler*innen Plakate gestaltet, von denen die Mehrzahl eine politische Botschaft hat. Neben einem weiteren Entwurf zum Thema Gewalt gegen Frauen hängen in den Kunsträumen zwei Plakate zu den Menschenrechten. Eindrücklich führen sie vor Augen, dass diese bedroht, eingeschränkt und mit Füßen getreten werden. Und dass auch wir aufgefordert sind, für die Menschenrechte einzutreten. Zum Beispiel als Schule ohne Rassismus/Schule mit Courage.
Ein Thema, das im Religionsunterricht oder im Zusammenhang mit Andachten immer wieder von Schüler*innen an mich herangetragen wird, ist der Umgang mit Tieren. Tierquälerei, Massentierhaltung oder Tierversuche brennen einigen von Euch unter den Nägeln. Deshalb war es für mich nicht überraschend, dass die Mehrzahl der Plakate aus der 10d sich diesem Thema, und zwar speziell den Tierversuchen widmet.
Jetzt könnte man natürlich fragen: „Sind manche Tierversuche denn nicht notwendig? Müssen Medikamente nicht getestet werden, bevor sie auf den Markt kommen? Und ist es nicht besser, sie erstmal an Tieren zu testen, anstatt Menschen als Versuchskaninchen zu missbrauchen?“ Vielleicht. Dagegen könnte man einwenden, dass menschliche Probanden so oder so unverzichtbar sind und dass diese immerhin selbst entscheiden können, ob sie sich für die Testreihen zur Verfügung stellen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich tief genug in der Materie bin, um hier eine belastbare Entscheidung zu treffen.
Mit dem Thema ist noch eine weitere, möglicherweise tieferliegende Frage angerissen. Zugespitzt formuliert lautet die: „Haben Tiere überhaupt Rechte und wenn ja, was gehen die mich an?“ Hinter dieser Frage steht eine Haltung, die Ethik in erster Linie von den eigenen Interessen bzw. denen der eigenen Spezies oder Gruppe her definiert. Mit der gleichen Argumentationsfigur könnte ich fragen: „Was gehen mich als Mann die Rechte von Frauen an? Oder die Rechte von Menschen in irgendwelchen fernen Ländern, die dort unterdrückt werden?“ Der Trend, sich selbst oder die eigene Gruppe an die erste Stelle zu setzen, ist ja aktuell ziemlich verbreitet.
Aber diese Haltung ist nicht nur ethisch fragwürdig, sondern auch kurzsichtig. Unser Wohl und Wehe hängt auch daran, wie es der Welt insgesamt geht. Das rücksichtslose Durchsetzen der eigenen Vorteile funktioniert vielleicht eine Zeit lang, aber nicht nachhaltig.
Schon für die Bibel ist klar: Wir Menschen sind ein Teil der Schöpfung. Gottes Fürsorge gilt der ganzen Schöpfung. In Psalm 36 heißt es „Herr, du hilfst Menschen und Tieren“. Und im Ps 104, dem „Schöpfungspsalm“ wird anschaulich beschrieben, wie Pflanzen, Tiere und Menschen eine Einheit in Gott bilden: „Die Bäume des Herrn erhalten Wasser genug, die Zedern des Libanon, die er gepflanzt hat. Dort in ihren Zweigen nisten die Vögel, der Storch ist auf den Zypressen zu Hause. Im Hochgebirge hat der Steinbock sein Revier. Der Klippdachs versteckt sich in den Felsen. Schickst du Finsternis, dann wird es Nacht. Nun regen sich alle Tiere in den Wäldern. Die jungen Löwen brüllen nach Beute, sie fordern etwas zu fressen von Gott. Geht die Sonne auf, ziehen sie sich zurück und ruhen sich aus in ihren Verstecken. Nun macht sich der Mensch ans Werk und tut seine Arbeit bis zum Abend.“
Der Arzt und Theologe Albert Schweitzer hat seine Haltung auf den Begriff „Ehrfurcht vor dem Leben“ gebracht. Er schreibt: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“. Im Grunde weitet er damit die Goldene Regel aus der Bergpredigt Jesu auf die Tier- und Pflanzenwelt aus. „Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch.“ Und damit liegt Schweitzer auf der Linie des Schöpfungsauftrags, den der Mensch von Gott bekommen hat. Als Ebenbilder Gottes tragen wir Verantwortung für die ganze Schöpfung.
Ethische Verantwortung endet nicht am eigenen Tellerrand. Wir sind nicht nur uns selbst, sondern auch unseren Mitgeschöpfen verpflichtet. Unseren Mitmenschen, egal ob Mann oder Frau, egal ob in der Nähe oder in der Ferne. Und auch den Tieren und Pflanzen. Das ist Gottes Auftrag an uns, unsere moralische Pflicht und ein Gebot der Vernunft.
Arnold Glitsch-Hünnefeld