Das Evangelium ist politisch
Mittwochsandacht_online

„Wenn Kirche manchmal zu beliebig wird, oder zu tagesaktuellen Themen Stellungnahmen abgibt wie eine NGO und nicht mehr die grundsätzlichen Fragen von Leben und Tod im Blick hat, dann wird sie leider auch austauschbar.“ Das hat die Bundestagspräsidentin Julia Klöckner in einem Interview zu Ostern gesagt. Einigen von Euch wird sie damit aus dem Herzen gesprochen haben. Manche von Euch sind genervt von politischen Mittwochsandachten.
Dass ich Klöckners Meinung nicht so ganz teile, ist dementsprechend keine Überraschung. Dabei gebe ich ihr Recht, wenn sie fordert, dass die Kirche die grundsätzlichen Fragen von Leben und Tod stellen muss. Ich stimme ihr auch darin zu, dass die Kirche sich nicht vor einen politischen Karren spannen lassen darf. Und das, was die Kirche zu sagen hat, darf sich auch nicht in politischen Statements erschöpfen. Sonst wird sie wirklich austauschbar.
Aber dass die Kirche sich zwischen tagespolitischen Stellungnahmen und den Fragen von Leben und Tod entscheiden müsse, halte ich für eine falsche Alternative. Das eine hängt mit dem anderen zusammen. Im christlichen Glauben geht es um beides – Leben und Tod. Der Glaube hat etwas mit dem Leben zu tun. Sonst wäre er tatsächlich überflüssig. Steil formuliert mit den Worten der Barmer Theologischen Erklärung von 1934: „Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben.“ (Barmen 2)
Damit ist nicht nur das Privatleben gemeint. Wir sind als Christen Teil der Gesellschaft und wir sind als Kirche Teil der Gesellschaft. Auch wenn die Kirche nicht mehr die Mehrheit der Gesellschaft umfasst, ist sie doch ein Teil des öffentlichen Lebens, der wahrgenommen wird. Ein Rückzug aus dem öffentlichen Diskurs würde eine Bestätigung des Bestehenden bedeuten. Auch das wäre also nicht unpolitisch. Die Kirche muss sich fragen, ob die bestehenden Verhältnisse dem Evangelium entsprechen. Wo nicht, ist vom Evangelium her eine Botschaft gefordert, die die bestehenden Verhältnisse in Frage stellt.
Dabei muss der Kern der kirchlichen Botschaft immer das Evangelium sein. Daran müssen sich all ihre Äußerungen messen lassen. Und es steht der Kirche auch nicht gut an, sich auf das hohe moralische Ross zu setzen. Aber sie muss erkennbar machen, wofür sie steht. Und das ist eben – nicht nur aber immer wieder – auch politisch. Denn das Evangelium hat politische Brisanz.
Welche Brisanz es – ohne große zusätzliche politische Stellungnahmen – entfalten kann, zeigt ein Beispiel aus Kassel. Für die Documenta 14 im Jahr 2017 fertigte der nigerianisch-amerikanische Künstler Olu Oguibe ein Denkmal an und nannte es „Das Fremdlinge und Flüchtlinge Monument“. Das Denkmal ist ein Betonobelisk, in den in vier verschiedenen Sprachen ein Zitat aus der Bibel eingraviert ist: „Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt“ (Mt 25,35) steht dort auf Deutsch, Englisch, Türkisch und Arabisch.
Der Künstler hat selbst eine Migrationsgeschichte. Ende der 1960er-Jahre herrschte in Biafra, seiner Heimat in Nigeria, Bürgerkrieg. Seine Familie wurde vertrieben und musste fliehen. Oguibe kommentierte sein Werk für die Documenta mit folgenden Worten: „Der Obelisk ist eine zeitlose Form, eine Form, die bis in die Antike zurückreicht, ursprünglich stammt sie aus Afrika. Er reiste um die ganze Welt. Wir verwenden ihn in diesem Zusammenhang, um ein universelles, zeitloses Prinzip in die Zukunft zu projizieren: die Idee der Barmherzigkeit und Gastfreundschaft gegenüber dem Fremden“. Zugleich verstand er die Arbeit auch als ein Symbol der Dankbarkeit für die deutsche Willkommenskultur gegenüber Flüchtlingen im Jahr 2015.
Der Obelisk wurde auf dem Königsplatz im Zentrum von Kassel aufgestellt und gehörte zu den beliebtesten Kunstwerken der Documenta. Von Anderen wurde er allerdings als Provokation empfunden. Der AfD-Stadtverordnete Thomas Materner nannte ihn „ideologisierende und entstellende Kunst“. Als der Plan aufkam, das Denkmal über die Laufzeit der Documenta hinaus an seinem Platz im Zentrum der Stadt zu belassen, formierte sich in Teilen der Bevölkerung heftiger Widerstand. Die Stadtverwaltung gab dem schließlich nach und ließ den Obelisken abbauen und einlagern. Aber auch dagegen gab es Widerstand. Schließlich fiel die Entscheidung, das Denkmal weniger zentral, aber doch an sichtbarer Stelle dauerhaft wieder zu errichten. Seit 2019 steht es in der Treppenstraße, der ältesten Fußgängerzone Deutschlands.
Das Beispiel zeigt: Das Evangelium hat uns bis heute etwas zu sagen. Es ist nicht egal. Es ist brisant. Gott sei Dank! Wir sind als Christen gefragt, die Botschaft des Evangeliums in Wort und Tat in der Öffentlichkeit erkennbar zu machen. Mal auf die großen Grundsatzfragen bezogen. Mal auf das politische Tagesgeschehen bezogen. Auch auf die Gefahr hin, dass wir damit manchmal Menschen auf die Nerven gehen.
Arnold Glitsch-Hünnefeld