Zerbrechlich

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Christian Seidel / pixelio.de

Es hätte ein Konzert anlässlich seines bevorstehenden 50sten Geburtstags werden sollen. Für den Abend des 11. September 2001 hatte Sting 200 Gäste nach Tuscani in Italien eingeladen. Dann aber lenkten an diesem Tag Terroristen Flugzeuge in das World Trade Center und das Pentagon und eine vierte gekaperte Maschine wurde bei Shanksville in Pennsylvania zum Absturz gebracht. Sting und seine Mitmusiker diskutierten, ob sie das Konzert absagen sollten. Sie entschieden sich zu musizieren und setzten so ein Zeichen gegen den Terror. Sting widmete das Konzert den Opfern der Anschläge und eröffnete es mit dem Stück „Fragile“:

„Wenn Blut fließt,
wenn Stahl und Fleisch eins geworden sind,
wenn die späte Sonne vergossenes Blut trocknet,
wird der Regen des morgigen Tages die Flecken fortspülen.
Und doch wird in unserem Gedächtnis etwas für immer bleiben.

Vielleicht hatte dieser eine, finale Akt den Sinn,
einen Streit, der ein Leben lang angedauert hat, zum Abschluss zu bringen;
dass allen, die unter einem zornigen Stern zur Welt kamen,
Gewalt nichts bringt und nie etwas bringen konnte.

Auf dass wir nie vergessen, wie zerbrechlich wir sind.

Weiter und immer weiter wird der Regen fallen
wie die Tränen eines Sterns.

Weiter und immer weiter wird der Regen uns sagen,

wie zerbrechlich wir sind, wie sterblich.

20 Jahre nach den Anschlägen vom 11. September gilt diese Erkenntnis noch immer: Wir sind zerbrechlich.

Zerbrechlich ist unsere Sicherheit. Selbst in einem Land wie den USA, das ein halber Kontinent ist und eigentlich als unangreifbar galt. Zerbrechlich ist unsere Sicherheit auch trotz des Krieges gegen den Terror, der 2001 seinen Anfang nahm, und trotz verschärfter Sicherheitsvorkehrungen überall auf der Welt. Zahlreiche Anschläge wurden seither trotzdem verübt. In Paris auf das Bataclan sowie zahlreiche Cafés und Bars mit 130 Toten, auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin, auf zwei Moscheen in Christchurch in Neuseeland, auf die Synagoge in Halle, um nur einige wenige zu nennen.

Der Krieg gegen den Terror konnte nicht nachhaltig dazu beitragen, die Sicherheit zu erhöhen. 20 Jahre später ist er in wesentlichen Teilen gescheitert. Zerbrechlich war die gesellschaftliche Öffnung in Afghanistan. Die Taliban sind wieder an der Macht; Mädchen werden wieder von der Schule ausgeschlossen; Menschen leben wieder in Angst. Zerbrechlich war auch das Vertrauen in die Streitkräfte aus dem Westen. Die Gefängnisse in Abu Ghraib und Guantanamo wurden zum Symbol für den Verrat des Westens an seinen eigenen Werten. Der Drohnenangriff vom 29. August, der eine Antwort auf den Terror sein sollte, aber stattdessen drei erwachsene Zivilisten und sieben Kinder das Leben kostete, war nur der vorerst letzte Nagel im Sarg des Vertrauens. „Gewalt wird nie etwas bringen, allen die unter einem zornigen Stern geboren wurden.“

Zerbrechlich ist der Konsens, dass Antisemitismus keinen Platz in unserer Gesellschaft haben darf. Nicht nur seit wieder Anschläge auf Synagogen verübt oder geplant werden. Einer Studie von 2019 zufolge hegt jeder vierte Deutsche antisemitisches Gedankengut. Und die Verschwörungstheorien rund um Corona befeuern dieses Denken noch. Zerbrechlich ist auch das Vertrauen in Demokratie und Rechtsstaat in unserer Gesellschaft. Zerbrechlich sind die offenen Gesellschaften in Europa – auch die unsere. Bedroht nicht zuletzt durch ein Bedürfnis nach Sicherheit, das kein Staat erfüllen kann, für das aber dennoch manche bereit sind, die Freiheit zu opfern.

Wir sind zerbrechlich. Das gehört zu unserem Menschsein dazu. Was kann dabei helfen, mit diesem Wissen zu leben?

Für mich gehört entscheidend Vertrauen dazu. Vertrauen in das Leben – trotz allem. Vertrauen in die Liebe, auch wenn sie täglich mit Füßen getreten und von Bomben zerrissen wird. Vertrauen in die Liebe, die stärker ist als der Tod, wie der Apostel Paulus schreibt.

Wie kann dieses Vertrauen wachsen? Indem wir die Liebe leben. Indem wir liebevoll miteinander umgehen – im täglichen Miteinander. In der Solidarität mit den terrorisierten Menschen. Indem wir dem vertrauen, der die Liebe kompromisslos gelebt hat, der selbst die Liebe ist: Jesus Christus. Er hat das Leben in seiner Zerbrechlichkeit angenommen bis zur letzten Konsequenz. Er ließ nicht zu, dass ein Jünger ihn mit Gewalt verteidigte, als er gefangen genommen wurde. Noch am Kreuz betete er für seine Peiniger: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Zwei Evangelien legen ihm als letzte Worte in den Mund „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ und ein drittes „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist“.

Vertrauen in das Leben in all seiner Zerbrechlichkeit, in die Liebe, in Gott. Paulus fasst es in diese Worte: „Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.“

Amen

Sting: „Fragile“ – live am 11. September 2001 in Tuscani