Wahrheit – ein Auslaufmodell?

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Vergangene Woche stand im Südkurier ein Interview mit einem Rhetorik-Trainer, der die Körpersprache von Wladimir Putin analysiert hat. Dabei ging es um die Frage, ob man an seiner Körpersprache ablesen könne, wann Putin lügt. Das sei aufgrund von dessen Training beim Geheimdienst und dem Einsatz von Botox und Cortison extrem schwer, aber möglich. Aber ist Putins Körpersprache denn überhaupt entscheidend dafür, zu erkennen, wann er lügt und wann er die Wahrheit sagt? Lässt sich das nicht einfach mit einem Abgleich seiner Aussagen mit der Wirklichkeit prüfen? Grundsätzlich sollte man meinen, dass das so ist.

Was passiert aber, wenn der Zugang zur Wirklichkeit systematisch verstellt, die Wahrheit ständig durch Desinformation in ihr Gegenteil verkehrt wird? Der Krieg in der Ukraine wurde von Putins Staatsführung in der russischen Öffentlichkeit von langer Hand vorbereitet. Einer Meldung vom Anfang der Woche zufolge befürworten 70% der Russen die „Spezialoperation“ der russischen Armee in der Ukraine. Ist diese Aussage wahr? Oder auch ein Teil der Propaganda? Unabhängig davon, ob diese Zahl nun stimmt: Es gibt Russen, die davon überzeugt sind, dass das Volk der Ukraine durch die russischen Streitkräfte von Naziterror befreit wird und die Bilder der Zerstörung nur westliche Propaganda sind. Wenn sie mit den Bildern und Nachrichten unabhängiger Medien konfrontiert werden, fragen manche zurück: „Wart ihr denn vor Ort? Habt ihr mit eigenen Augen gesehen, was passiert?“

Die allermeisten von uns können das nicht für sich in Anspruch nehmen. Wir vertrauen auf die Zuverlässigkeit unserer Quellen. Ich denke in der Tat, dass es gute Gründe dafür gibt, den seriösen unter unseren Medien zu vertrauen. Sie sind unabhängig. Bei uns herrscht Pressefreiheit. Das sehen allerdings nicht wenige auch bei uns anders. Verschwörungstheoretiker und andere sprechen von „Staatsmedien“ und “Lügenpresse“. Sie sind sich dabei ihrer Sache absolut gewiss. Und ich bin mir ebenso gewiss, dass sie sich irren.

Gibt es einen Ausweg aus dieser Pattsituation? Oder müssen wir das Ringen um die Wahrheit aufgeben? Hat der postmoderne Relativismus recht, wonach jeder Mensch seine eigene Wahrheit hat und keiner dieser Wahrheiten der Vorzug zu geben ist? Das würde bedeuten, vor Desinformation und Lüge zu kapitulieren. Dann hätten die pathologischen Lügner unter den Mächtigen, die Putins, Trumps und die vielen anderen, gewonnen.

Kommen wir auf die Frage zurück, was Wahrheit denn ist. Ohne hier allzu sehr in die Tiefe gehen zu können, ist doch offensichtlich, dass Wahrheit und Gewissheit nicht dasselbe sind. Gewissheit ist das subjektive Fürwahrhalten eines Sachverhalts. Im Lauf der Geschichte – und vermutlich auch jeder persönlichen Biografie – haben sich Gewissheiten aber immer wieder als falsch erwiesen.

Es braucht also eine Sicherungsinstanz jenseits der persönlichen Überzeugung. Eine gängige Definition von Wahrheit, die ich der Einfachheit halber hier übernehme, lautet: Wahrheit ist die Übereinstimmung einer Aussage mit der Wirklichkeit. Demnach wäre die Wirklichkeit die Sicherungsinstanz der Wahrheit.

Dass auf diesem Weg zweifelsfrei erwiesen werden kann, was die Wahrheit ist, setzt allerdings voraus, dass Menschen Zugang zur Wirklichkeit haben. Und zwar nicht zu ihrer persönlichen, sondern zu so etwas wie der objektiven Wirklichkeit. Und dieser Zugang darf nicht durch subjektive Wahrnehmung eingefärbt sein. Da setzt die Philosophie zu Recht einige Fragezeichen. Mit Karl Popper könnte man sagen: Wir können die Wahrheit erkennen, aber nicht erkennen, ob wir sie erkannt haben. Wie, wenn man im Nebel einen Gipfel erklimmt und sich nicht sicher sein kann, dass man den Gipfel tatsächlich erreicht hat. Auch wissenschaftliche Wahrheit gilt immer nur bis zum Erweis ihres Gegenteils. Letzte Sicherheit ist auf diesem Weg nicht zu erreichen.

In der Bibel, in Ps 36, heißt es „Herr, deine Güte reicht, soweit der Himmel ist, und deine Wahrheit, soweit die Wolken gehen“. Kann Gott die Sicherungsinstanz der Wahrheit sein? Für manche Christen ist das gar keine Frage. „Das Wort Gottes ist wahr und liegt uns in den Worten der Bibel vor“, würden sie antworten. Dabei meinen sie ein buchstäbliches Verständnis der Bibel und sind davon überzeugt, dass sie das haben. Wenn wissenschaftliche Fakten gegen Aussagen der Bibel sprechen, ist das aus ihrer Sicht schade für die Fakten, aber keine Infragestellung der biblischen Wahrheit. Für andere Christen, die da vorsichtiger in ihrem Urteil sind, haben sie wenig Verständnis.

Von außen betrachtet handelt es sich bei diesem Wahrheitsanspruch allerdings um Gewissheit und nicht um Wahrheit. Auch und gerade als Christ halte ich es für vermessen, zu meinen, ich sei im Besitz der Wahrheit. Dieses Privileg kommt mach meiner Überzeugung alleine Gott zu.

Worauf ich aber tatsächlich vertraue ist, dass die Wirklichkeit Gottes Wirklichkeit ist. Dass er sie kennt und damit auch die Wahrheit. Dass er für die Wahrheit einsteht. Und deshalb lohnt es sich, nach der Wahrheit zu suchen und um sie zu ringen – im Wissen darum, dass all diese Versuche vorläufig bleiben müssen.

Noch einmal zu Ps 36. Darin geht es nicht nur um Wahrheit: „Herr, deine Güte reicht, so weit der Himmel ist, und deine Wahrheit, so weit die Wolken gehen.  Deine Gerechtigkeit steht wie die Berge Gottes und dein Recht wie die große Tiefe.“ Güte, Wahrheit, Gerechtigkeit und Recht – diese Begriffe hängen zusammen. Ich bin überzeugt davon, dass wir der Wahrheit dienen, wenn wir Güte zeigen, wenn wir uns in Menschen hineinfühlen und ihre Bedürfnisse ernst nehmen. Wenn wir uns dafür einsetzen, dass Menschen zu ihrem Recht kommen, dass ihnen Gerechtigkeit widerfährt. Im Blick auf das Weltgeschehen sind unsere Möglichkeiten dazu begrenzt, wenn auch nicht gleich Null. In unserem Alltag aber können wir zu Botschaftern der Güte, der Gerechtigkeit, des Rechts und damit auch der Wahrheit werden. Möge uns das immer wieder gelingen.

Arnold Glitsch-Hünnefeld