Verzicht und Konzentration

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Wir stehen am Beginn der Passionszeit. Der Zeit der Vorbereitung auf Karfreitag und Ostern. Der Zeit des Gedenkens an Jesu Leiden und Sterben und dem Vorblick auf seine Auferstehung. In diesem Jahr wird die Passionszeit vom Krieg überschattet. Verliert sie dadurch ihre Bedeutung? Ich denke nicht. Passion bedeutet – wörtlich übersetzt – „Leiden“. Die Passionszeit ist eine Erinnerung daran, dass der christliche Glaube keine Schönwetter-Religion ist. Er kann gerade auch in schweren Zeiten Kraft geben, um standzuhalten.

Für manche Christinnen und Christen ist die Passionszeit eine Fastenzeit, eine Zeit des freiwilligen Verzichts. Warum tun sie das?

Einen Hinweis kann das Evangelium für diese Woche geben, die Geschichte, wie Jesus in der Wüste versucht wurde. Dort wird erzählt, wie Jesus vom Heiligen Geist in die Wüste geführt wurde. Dort fastete er 40 Tage lang. Am Ende tritt der Teufel an ihn heran und führt ihn dreimal in Versuchung. Jesus soll sein Fasten brechen, indem er Steine in Brot verwandelt. Er soll Gott herausfordern, indem er sich vom Tempel stürzt und Gott dazu zwingt ihn zu retten. Und der Teufel bietet Jesus alle Reiche der Welt an, wenn er vor ihm niederfällt und ihn anbetet. Jesus widersteht den Versuchungen, Gott wie ein Werkzeug zu benutzen. Und er widersteht den Verlockungen der Macht, für die er Gott und sich selbst verraten müsste. Er widersteht, obwohl der Versucher die Wahrheit verdreht und sogar mit der Bibel argumentiert. Ich glaube, er widersteht unter anderem, weil er in diesen 40 Tagen des Fastens ganz konzentriert, ganz und gar bei Gott war. So hat er die nötige Kraft gewonnen. Die Finsternis kann ihn nicht überwinden.

Also noch einmal: Welchen Sinn kann der freiwillige Verzicht in der Passionszeit haben? Wenn Ablenkungen – auch schöne Nebensachen – für eine begrenzte Zeit weggelassen werden, dient das der Konzentration. Ich kann eine Ahnung davon gewinnen, was wesentlich in meinem Leben ist. Für mich gehört der Glaube zum Wesentlichen. Das Getragen- und Gehaltensein – im Schönen wie im Schweren. Das Bewusstsein, dass ich Teil einer Wirklichkeit bin, die größer ist als das, was ich vordergründig wahrnehme. Größer als die Annehmlichkeiten, die mir den Alltag versüßen. Größer als die Schreckensnachrichten, die mich in diesen Tagen zu überwältigen drohen. Eine Wirklichkeit, die durch Gemeinschaft geprägt ist – Gemeinschaft mit Gott und Gemeinschaft mit Menschen. Menschen, die mir nahestehen: Meine Familie, meine Freunde. Meine Kolleginnen und Kollegen, meine Schülerinnen und Schüler. Aber auch Menschen, zu denen ich keinen direkten Kontakt habe, aber denen ich mich geistig verbunden fühle – durch den Glauben an Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zum Beispiel. Durch den Glauben an die Würde des Menschen. Durch den Glauben an Gott.

Verzichten worauf?

Ich verzichte in dieser Zeit auf den ein oder anderen Luxus, z.B. die Naschereien am Schreibtisch oder ein Glas Wein am Abend. Ich erinnere mich auf diese Weise daran, dass ich diese Annehmlichkeiten nicht wirklich brauche. Ich konzentriere mich auf Wesentlicheres. Dadurch fällt es auch leichter, manche Einschränkung zu akzeptieren, die der gegenwärtige Krieg z.B. durch Sanktionen und steigende Preise mit sich bringt. So wird Verzicht zu einem Stück Solidarität. Erst recht, wenn der Verzicht mit Spenden für Menschen einhergeht, die durch den Krieg in Not sind.

Verzicht auch auf unrealistische Erwartungen nach dem Motto: „Ich bete hier und in der Ukraine schweigen die Waffen.“ So einfach ist es – leider – nicht. In der Versuchungsgeschichte verzichtet Jesus auf die Abkürzungen, die ihm angeboten werden. Konzentration auf das Wesentliche heißt für mich in diesem Zusammenhang: Das Gebet lässt mich spüren: Ich bin nicht allein. Ich stehe in Verbindung zu Gott. Und ich stehe in Verbindung mit anderen Betenden – überall auf der Welt.

Verzicht auf „Doom-Watching“. Die Bilder des Krieges sind jederzeit verfügbar. Darin liegt die Versuchung, ständig darauf zu starren. Das ist aber nicht hilfreich. In der ersten Zeit der Ferien habe ich dieser Versuchung oft nachgegeben. Und ich habe gemerkt, wie mich das runtergezogen hat. Es hat mir Kraft geraubt und Erholung verhindert, die ich dringend gebraucht hätte. Natürlich gibt es auch die gegenteilige Versuchung: Den Kopf in den Sand zu stecken und gar nicht mehr hinzuschauen. Dann aber geht die Solidarität verloren. Konzentration auf das Wesentliche heißt im Blick auf die Nachrichten aus der Ukraine: Sich informieren, aber in einem gesunden Maß. So, wie man sich auch sonst über das Weltgeschehen auf dem Laufenden hält.

Verzicht schließlich auf ein vernichtendes Urteil über die Menschheit. Wenn ich sehe, was Menschen einander und der Welt antun, frage ich mich manchmal: Ist der Mensch nicht eine Fehlkonstruktion? Andererseits sehe ich, wie Menschen immer wieder auch zu ganz Großartigem in der Lage sind. Aktuell erlebe ich eine gigantische Hilfsbereitschaft trotz der sich abzeichnenden Einschränkungen. Das ist ein hoffnungsvolles Zeichen. Auf diese hoffnungsvollen Zeichen will ich mich konzentrieren. Da, wo Menschen im Geist Jesu handeln, ist er mitten unter ihnen. Solche Erfahrungen helfen dabei, nicht völlig den Glauben an die Menschheit zu verlieren. Der Mensch ist trotz allem das Ebenbild Gottes.

Letztlich geht es bei dem Verzicht in der Passionszeit um die Konzentration auf das Leben – gegen die Finsternis. Darum, Kraft zu gewinnen für das Leben – mit all seinen fordernden Seiten. Den Kopf frei zu bekommen für die Mitmenschen, für Solidarität und Hilfsbereitschaft mit den nahen und mit den fernen Mitmenschen – z.B. in und aus der Ukraine. Den Blick geweitet zu bekommen für die Vielfalt, den Reichtum und die Schönheit des Lebens – trotz allem. Passion bedeutet nicht nur Leiden, sondern auch Leidenschaft. Leidenschaft für das Leben.

Arnold Glitsch-Hünnefeld