Ungesellige Philantropen?

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Es gab sie schon, als ich Kind war, und einige von Euch werden sie auch noch kennen: Die Peanuts. Neulich ist mir bei meiner Tochter und ihrem Freund mal wieder ein Buch mit Peanuts-Cartoons in die Hände gefallen. Und wieder einmal ist mir aufgefallen, dass in den kleinen Comic-Strips oft einiger Tiefgang steckt.

Zum Beispiel in diesem: Die vorlaute Lucy macht sich mal wieder über ihren zartbesaiteten kleinen Bruder Linus lustig „Du – ein Doktor? Ich lache mich tot! – Du kannst kein Arzt sein, weißt du auch warum? – Weil du die Menschheit nicht liebst, darum!“ Linus ist einen Moment perplex. Dann kontert er: „Ich liebe die Menschheit!! Ich kann nur Leute nicht ausstehen!“

Ich mag Menschen. Und ich bin auch gerne unter Leuten. Aber manchmal kann ich die Menschenscheu von Linus gut nachvollziehen. Tief im Inneren bin ich nämlich ziemlich schüchtern. Und gar nicht so selten fühle ich mich im Umgang mit Menschen eher unbeholfen. Damit stehe ich mir selbst dann ähnlich im Weg wie Linus.

„Ich liebe die Menschheit!“ Diese Haltung ist mir ein Anliegen. Ihr hört das von mir vielleicht öfter, als Euch lieb ist. In Andachten, im Unterricht, beim Nachdenken über das christliche Profil unserer Schule. Ein Kerngedanke dabei ist: Nächstenliebe gilt nicht nur den Menschen, die uns nahestehen. In der Tora wird gefordert, auch die Fremden zu lieben wie sich selbst. Und Jesus erweitert den Gedanken sogar bis hin zur Feindesliebe. Dabei geht es weniger um ein Gefühl als vielmehr um ein Verhalten, eine Haltung.

Ist das nicht genau das, was Linus zum Ausdruck bringt? Ist er vielleicht ein kleiner Albert Schweitzer, der irgendwann eine Krankenstation im Urwald errichten wird – weit weg von Nervensägen wie seiner Schwester Lucy? Einer, der sein Leben in den Dienst an der Menschheit stellt, der seine Liebe gilt und für die er sogar bereit ist, mit Leuten – Patienten – in Kontakt zu treten? Auch wenn er Leute eigentlich nicht ausstehen kann?

Aber irgendwie wirkt das ein bisschen unfroh und spaßbefreit. Vor meinem geistigen Auge sehe ich ein bestimmtes, typisch-protestantisches Milieu. Menschen, die sich ganz in den Dienst der Menschheit stellen, die immer dabei sind, wenn in der Kirchengemeinde jemand gebraucht wird, die an sich selbst höchste moralische Ansprüche stellen – und denen Lebensfreude völlig fern liegt, die zum Lachen in den Keller gehen und mit dem gemeinen Volk eigentlich nichts gemein haben wollen. Das Klischee vom protestantischen Preußen im Gegensatz zur rheinisch-katholischen Frohnatur. Solche aufrechten Protestanten werden respektiert – aber selten geliebt. „Ich kann Leute nicht ausstehen“ ist vielleicht doch nicht die optimale Lebenseinstellung.

Andererseits: Wird nicht auch von Jesus berichtet, dass er sich immer wieder von den Leuten zurückgezogen und die Einsamkeit gesucht hat? Dass er den See zwischen die Menge und sich gebracht hat oder ganz allein irgendwo zum Beten hingegangen ist? Das wohl, aber grundsätzlich war er wohl kein ungeselliger Mensch. Er war dem Genuss nicht völlig abhold, war bei manchen frommen Zeitgenossen sogar als „Fresser und Weinsäufer“ verschrien und sorgte, als bei der Hochzeit zu Kana der Wein zur Neige ging, für Nachschub von bester Qualität. Und immerhin hat er zwölf Menschen um sich geschart, mit denen er durch Galiläa zog und praktisch ständig zusammen war.

Vielleicht liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte. Einerseits brauchen wohl die meisten Menschen immer wieder Zeiten für sich alleine. Rückzugsräume von den Leuten. Andererseits ist Geselligkeit auch gesund. Mit anderen Menschen Lebensfreude teilen und genießen. Und das ganz ohne Anspruch oder ein höheres Ziel.

In den Pfingstferien habe ich in meiner alten Gemeinde nach Jahren mal wieder an der „kulinarischen Weinwanderung“ teilgenommen. Wir sind einen Tag lang durch die Weinberge gewandert, haben die schöne Gegend auf uns wirken lassen und an verschiedenen Stationen leckeres Essen und guten Wein genossen. Ich habe viele Menschen getroffen. Alte Freunde und wildfremde Menschen. Ich konnte meine Schüchternheit gut überwinden und wir haben uns über Gott und die Welt ausgetauscht. Ganz ohne Zwang.

Solche Formen der Geselligkeit mit Leuten machen es mir leicht, die Menschen – ja vielleicht sogar die Menschheit – zu lieben. Vielleicht ist ein zwangloses Miteinander ein gutes Übungsfeld um das Paradox von Linus „ungeselliger Menschheitsliebe“ aufzulösen. Vielleicht braucht es ein paar Leute in der Nähe, die man gernhat, damit man überzeugend die Menschheit lieben kann.

Für mich hat das auch etwas mit meiner Vorstellung von Gott zu tun. Ich stelle ihn mir warmherzig und humorvoll vor. Ich stelle mir vor, dass er meine Schüchternheit und Unbeholfenheit liebevoll annehmen und über meine gelegentliche Selbstüberschätzung herzhaft lachen kann, anstatt sich über sie aufzuregen. Ich glaube, Gott liebt die Menschheit und die Leute. Damit wärmt er mir das Herz.

Arnold Glitsch-Hünnefeld