„Wallflower“

Mittwochsandacht_online

Am 16. Februar ist der russische Regimekritiker Alexej Nawalny in einem Straflager in Sibirien zu Tode gekommen. Die genauen Umstände seines Todes werden wohl nie aufgeklärt werden. Aber es ist auch egal, ob bei seinem Tod aktiv nachgeholfen wurde oder ob die unmenschlichen Haftbedingungen ihn umgebracht haben. Die Verantwortung für seinen Tod liegt bei Wladimir Putin und den Herrschenden in Moskau.

Nawalny ist nicht der Erste, der dafür mit dem Leben bezahlt hat, dass er seine Meinung vertreten und sich für die Freiheit eingesetzt hat. Und er ist leider wohl auch nicht der Letzte. Die Liste der Opfer politischer Willkür der Mächtigen ist lang. Letztlich ging auch Jesus Christus dafür ans Kreuz, dass er den Mächtigen unbequem war und sie Angst vor der Kraft seiner Ideen hatten.

Anfang der 80er-Jahre wurde Peter Gabriel im Rahmen einer Tournee für amnesty international angefragt, ein Stück zu schreiben. Er dachte dabei an Lech Walesa, den polnischen Gewerkschaftsführer, der zu jener Zeit in einem Lager nahe der Sowjetunion interniert war. Und er dachte an die Folteropfer der chilenischen Diktatur. Das Stück heißt „Wallflower“ – „Mauerblümchen“ und Peter Gabriel beschreibt darin die Situation von politischen Gefangenen.

6 by 6 from wall to wall
Shutters on the windows, no light at all
Damp on the floor, you got damp in the bed
They’re trying to get you crazy, get you out of your head
And they feed you scraps and they feed you lies
To lower your defences, no compromise
Nothing you can do, the day can be long
Your mind is working overtime, your body’s not too strong

Hold on, hold on
Hold on, hold on
Hold on, hold on

They put you in a box so you can’t get heard
Let your spirit stay unbroken, may you not be deterred
Hold on, you have gambled with your own life
And you face the night alone
While the builders of the cages
Sleep with bullets, bars and stone
They do not see your road to freedom
That you build with flesh and bone

„You have gambled with your own life.“ Nawalny wusste, worauf er sich einließ, als er nach Russland zurückkehrte. Er wusste, dass man ihn verhaften und unter fadenscheinigen Gründen anklagen würde. Er wusste, dass er wohl nie mehr freikommen würde. Auch Jesus wusste, was ihn erwartete, als er nach Jerusalem ging. Er hätte klein beigeben, in Galiläa bleiben und sich unauffällig verhalten können. Aber er lieferte sich den Mächtigen aus, dem Hohen Rat und Pilatus, dem römischen Prokurator.

They take you out and the light burns your eyes
To the talking room, it’s no surprise
Loaded questions from clean white coats
Their eyes are all as hidden as their Hippocratic Oath
They tell you how to behave, behave as their guest
You want to resist them, you do your best
They take you to your limits, they take you beyond
For all that they are doing there’s no way to respond

Es gibt keine Antwort auf die absurden Anschuldigungen. Jesus schweigt vor dem Hohen Rat und er schweigt beim Prozess vor Pilatus. Das war sein Weg, die Mächtigen ins Unrecht zu setzen. Nawalny hat einen anderen gewählt. Er schwieg nicht. Er nutzte die Schauprozesse, um die russische Führung immer wieder vorzuführen. So oder so – in beiden und unzähligen anderen Fällen stand das Urteil längst fest, egal, was die Beschuldigten gesagt hätten.

Hold on, hold on

They put you in a box so you can’t get heard
Let your spirit stay unbroken, may you not be deterred
Hold on, you have gambled with your own life
And you face the night alone
While the builders of the cages
Sleep with bullets, bars and stone
They do not see your road to freedom
That you build with flesh and bone

Sie sperren ihre Gegner weg, damit niemand deren Stimme hören kann. Sie bauen auf Waffen und Mauern. Putins Regime wird mit einer Grabplatte über dem russischen Volk verglichen. Menschen wie er begreifen nicht, dass Menschen dazu bereit sind, Leib und Leben für ihre Überzeugungen, für die Freiheit zu geben. Aber sie fürchten die Stimme der Freiheit. Deshalb wurde der Stein vor Jesu Grab gewälzt. Deshalb brach Putin den Krieg gegen die Ukraine vom Zaun, weil er die Stimme der Freiheit im Nachbarland nicht ertragen konnte.

Though you may disappear, you’re not forgotten here
And I will say to you, I will do what I can do
You may disappear, you’re not forgotten here
And I will say to you, I will do what I can do
And I will do what I can do
And I will do what I can do

„You may disappear …“ Nawalny ist tot. Getötet von den Mächtigen. Und unzählige andere auch. Victor Jara in Chile, Stephen Biko in Südafrika, Jesus von Nazareth in Jerusalem. In Russland ist es nicht einmal erlaubt, öffentlich um Nawalny zu trauern. Wer es wagt, riskiert, selbst verhaftet zu werden. Die Grabplatte über dem Volk darf keinen Millimeter bewegt werden.

„You’re not forgotten here.“ Es ist an uns, den Menschen in den freien Ländern, stellvertretend zu trauern und zu gedenken. Wenn die Augen der Welt auf das Unrecht schauen und sich die Stimme der Weltöffentlichkeit mit denen der Mutigen in den Diktaturen verbinden, dann können die Mächtigen die Freiheit nicht auf ewig unterbinden. „You can blow out a candle, but can’t blow out a fire“ singt Peter Gabriel in seinem Stück für Stephen Biko. „And the eyes of the world are watching now.“ Das Arpartheidregime in Südafrika wurde überwunden. Nelson Mandela wurde nach 27 Jahren Haft freigelassen und später Präsident eines demokratischen Südafrika. Auch Lech Walesa kam frei und wurde Staatspräsident in Polen. Die Diktatur in Chile ist Vergangenheit. Die Felsen vor den Gräbern werden weggewälzt. Der Ostermorgen bricht an. Manchmal dauert es schier unerträglich lang bis dahin. Doch am Ende steht die Freiheit der Kinder Gottes.

Arnold Glitsch-Hünnefeld

Peter Gabriel „Wallflower“ (New Blood, Live in London 2011)