Zwei Wahrnehmungen – eine Perspektive

Mittwochsandacht_online

Friedemann Kallert, Zerstörung

Dieses Bild ist ein Abschiedsgeschenk von Friedemann Kallert, einem befreundeten Künstler aus meiner alten Gemeinde. Kurz bevor wir aus Britzingen weg und nach Karlsruhe gezogen sind, sagte er mir, ich solle bei ihm vorbeikommen und mir eins seiner Bilder aussuchen. Es wurde eine Art Kunst-Speeddating. Er zeigte mir ca. 40 seiner Bilder – jedes immer nur ein paar Sekunden.

Nach diesem kurzen Eindruck sollte ich jeweils entscheiden, ob das Bild in die engere Auswahl käme oder nicht. Übrig blieben acht ganz unterschiedliche Bilder. Jedes einzelne gefiel mir auf seine Weise sehr gut. Ich tat mich schwer mit der Entscheidung. Das abgebildete Bild war zwar mein heimlicher Favorit, aber ich war mir sicher, dass meine Frau es nicht mögen würde. Zu düster und gewalttätig erschien es mir. Da das Bild in unserer neuen Wohnung hängen sollte, verabredete ich mit dem Künstler, dass ich meine Frau bei ihm vorbeischicken würde. Sie solle eins der acht Bilder aussuchen und das würde es dann sein.

Ich war ziemlich erstaunt, als meine Frau ausgerechnet mit diesem Bild nach Hause kam. „Was siehst Du in dem Bild?“ habe ich sie gefragt. „Einen Weg“ hat sie geantwortet. „Das passt gut dazu, dass wir jetzt an einem neuen Ort etwas Neues anfangen.“ Jetzt war ich erst recht erstaunt. Das zentrale Element in dem Bild, das für sie einen Weg darstellt, stellt für mich einen Schnitt dar, der das Bild in zwei Hälften teilt.

Fast als sei es mit einem Messer aufgeschlitzt. Erst später ist mir aufgefallen, dass der Künstler auf die Rückseite der Leinwand einen Titel für das Bild geschrieben hat: „Zerstörung“. Wenn ich allerdings daraus geschlossen hätte, ich läge mit meiner Interpretation richtig und meine Frau falsch, hätte ich etwas Grundlegendes nicht begriffen: Kunst – und besonders abstrakte Kunst – ist interpretationsoffen. Die Gedanken des Künstlers schreiben den Bedeutungsgehalt eines Werkes nicht fest. Zwei sehr unterschiedliche Wahrnehmungen desselben Bildes also.

Ich frage mich manchmal, was mich an dem Bild so anspricht, dass ich es gerne in unserer Wohnung (und aktuell in meinem Arbeitszimmer) haben möchte – angesichts meiner doch eher düsteren Assoziationen dazu. Vielleicht ist es gerade das. Ich mag die Schönheit im Abgründigen. Ich mag scharfe Kontraste, die eine besondere Dynamik entwickeln. So wie die Verbindung von Süße und Schärfe in der orientalischen Küche.

Oder das Aufeinanderprallen von Härte und Melodie im Metal. Solche Kunst ist für mich nicht zuletzt ein Ventil, um meine Aggressionen zu kanalisieren. Sie verlieren ihr zerstörerisches Potenzial, und was bleibt, ist Energie. Für mich strahlt dieses Bild Kraft aus. Kraft im Pinselstrich. Kraft in der Wahl der Farben. Kraft in der Dynamik. (Erst beim wiederholten Betrachten ist mir aufgefallen, dass der „Schnitt“ mit der hellen Querlinie im oberen Teil auch ein Kreuz andeuten könnte. Das wäre eine eigene Interpretation wert – vielleicht zu Karfreitag.)

Gibt es nun etwas Verbindendes zwischen meiner Wahrnehmung und der meiner Frau? Ja: Veränderung. Der Weg, den meine Frau in dem Bild sieht, führt an einen neuen Ort – und führte damals auch in ein neues Arbeitsfeld. Und manchmal muss das Alte eingerissen werden, damit etwas Neues entstehen kann. Dieser Gedanke schlägt sich auch in der Apokalyptik nieder – einer Vorstellungswelt, die zur Zeit Jesu Konjunktur hatte.

In der Bibel finden sich Apokalypsen zum Beispiel in Mk 13 und natürlich in der Offenbarung des Johannes. Zum Genre gehört die Schilderung einer umfassenden Katastrophe, bevor das Neue anbricht: Die Wiederkunft Christi oder die neue Welt Gottes. Dabei werden die Katastrophen zwar in der Erzählwelt als zukünftig dargestellt. Tatsächlich beschrieben sie aber verklausuliert die Krisen der Gegenwart. Die Denkfigur ist also, dass durch die Krise hindurch eine Perspektive des Heils aufscheint.

Damit führen mich meine Betrachtungen zu dem Bild unversehens in die Gegenwart. Noch ist nicht klar, wie lange die aktuelle Krise unser Leben noch bestimmen wird. Für viele Menschen sind ihre Auswirkungen zerstörerisch und katastrophal. So manches wird danach nicht mehr so sein wie vorher. Aber in einem Teil dieser Veränderungen liegt Potenzial für die Zukunft.

Die Notwendigkeit des Fernunterrichts hat uns an der Schule routinierter im Umgang mit der digitalen Technik werden lassen. So sehr ich mich darauf freue, den Schülerinnen und Schülern und auch meinen Kolleginnen und Kollege wieder von Angesicht zu Angesicht auf dem Campus begegnen zu können, so werden diese Fertigkeiten meinem Unterricht auch dann noch zu Gute kommen. In der Krise haben viele Menschen Phantasie, Engagement und Solidarität aufgebracht, um irgendwie mit der Situation klar zu kommen. Das lässt mich für die Zukunft hoffen.

Ich vertraue darauf, dass dieser Kreativitätsschub auch die Zukunft prägen wird. Und wenn ich an die unterschiedlichen Zugänge von meiner Frau und mir zu dem Bild denke, wünsche ich mir, dass wir in der Gesellschaft viel öfter die Erfahrung machen, dass unterschiedliche Wahrnehmungen derselben Sache zu gemeinsamen neuen Perspektiven führen können.

Arnold Glitsch-Hünnefeld

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