Severus Judas Snape

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Es ist eine der dramatischsten Szenen in der Harry Potter Geschichte: Gegen Ende des sechsten Bandes ist es einer Gruppe von Feinden gelungen, nach Hogwarts einzudringen. Es tobt ein Kampf. Der sichtlich angeschlagene Schulleiter Dumbledore wendet sich an Snape, den finsteren Lehrer, der trotz seiner Zwielichtigkeit das Vertrauen Dumbledores genießt: „Severus bitte!“ Snape belegt ihn mit dem Todesfluch „Avada kedavra!“ und Dumbledore stirbt. Spätestens jetzt scheint klar, dass Snape Dumbledores Vertrauen missbraucht hat und die ganze Zeit im Dienst des bösen Lords Voldemort gestanden ist.

Erst im Verlauf des siebten und letzten Bandes wird klar, dass Snape kein Verräter war, dass er mit dem Todesfluch in Wahrheit die Bitte Dumbledores erfüllt hat und dass er unter Verleugnung seiner eigenen Identität und schließlich bis zur Preisgabe des eigenen Lebens gegen das Böse gekämpft hat. Und trotzdem war er zugleich auch der Unsympath, der mit seinem Hass Harry und seinen Freunden das Leben schwer gemacht hat. Gerade in dieser schillernden Identität ist Snape eine der interessantesten Figuren der Geschichte.

Es ist vielleicht kein Zufall, dass mir gerade in der Passionszeit die Parallele zwischen Snape und Judas Iskariot aufgefallen ist. Ähnlich wie Snape im Roman ist er eine der besonders interessanten Figuren in den Evangelien. Vordergründig ist er der Böse schlechthin, der Verräter, der seinen geliebten Meister für dreißig Silberlinge den Feinden ausliefert. Als solcher ist er im kollektiven Gedächtnis verankert. „Du Judas!“ ist geradewegs ein Synonym für „Du Verräter!“ Aber ist das wirklich so eindeutig? Hat Judas wirklich aus niederen Motiven gehandelt? Aus Habgier?

Amos Oz, ein jüdischer Schriftsteller, der große Sympathien für Jesus und das Neue Testament hegt, zieht das in seinem Büchlein „Jesus und Judas“ in Zweifel. Ihm will nicht einleuchten, dass Judas, der im Gegensatz zu den anderen Jüngern wohlhabend gewesen sei, Jesus für den Monatslohn eines Tagelöhners ans Messer geliefert haben soll. Überhaupt findet er die ganze Szene um Judas – Gegensatz zum Rest der Evangelien – haarsträubend schlecht erzählt.

Oz stellt die Denkmöglichkeit in den Raum, dass Judas erwartet hat, dass Jesus endlich allen seine göttliche Macht beweisen und vom Kreuz herabsteigen werde. Manche Bibelforscher nehmen an, dass Judas zu den Zeloten gehört hat, die einen bewaffneten Aufstand gegen die römische Besatzungsmacht planten. Er sah in Jesus den Anführer dieses Aufstands und wollte ihn durch seine Auslieferung dazu zwingen, endlich zu den Waffen zu greifen. Als er begriff, dass Jesus sich nicht wehren, sondern sterben würde, brachte er sich aus Verzweiflung um. Wieder andere sehen in Judas ein Werkzeug des göttlichen Heilsplans, nach dem Jesus am Kreuz sterben musste. In der Erzähllogik der Evangelien war sich Judas dessen aber wohl nicht bewusst.

So oder so: Die Dinge sind im Fall von Judas nicht so eindeutig, wie sie auf den ersten Blick scheinen. Oft sind Schwarz und Weiß nicht so eindeutig verteilt. Es gibt eine Menge Grautöne. Es lohnt sich genauer hinzusehen und niemanden voreilig verloren zu geben. Auch nicht Judas Iskariot. Und auch keinen Menschen, dem wir in unserem Leben begegnen.

Neben Judas sind viele andere zentrale Figuren der Bibel keine strahlenden Helden, sondern eher ambivalente Charaktere. Abraham gibt seine Frau Sarah in Ägypten als seine Schwester aus und lässt zu, dass der Pharao sie zur Frau nimmt, um sich selbst zu schützen. König David geht mit Batseba fremd und schickt ihren Mann in den Tod. Petrus verleugnet Jesus. Paulus verfolgt zunächst die Christen. Und doch sind diese alle von Gott geliebt.

Auch in den Harry Potter Büchern ist Snape beileibe nicht die einzige ambivalente Figur. Harry erkennt (spät), dass Snapes Hass auf ihn daher rührt, dass sein vergötterter Vater Snape als Schüler zutiefst gedemütigt – neudeutsch gemobbt – hat. Und auch Harry selbst stößt aufgrund von gekränkter Eitelkeit seine besten Freunde vor den Kopf und verhält sich mehr als einmal als echter Stinkstiefel. Wenn in ihnen alles schwarz und weiß wäre, wären die Bücher auch ziemlich langweilig. So aber sind sie bei allen phantastischen Ideen in der Zeichnung der Figuren lebensnah und deshalb interessant.

Die Ambivalenz von zentralen Identifikationsfiguren mag eine Ermutigung sein, auch die eigenen Ambivalenzen, die eigenen Grautöne und blinden Flecken in den Blick zu nehmen. Vielleicht gerade in der Passionszeit.

Im Vertrauen darauf, dass auch Gott sich nicht gerne langweilt und deshalb nicht nur die 99 Gerechten liebt, sondern auch und gerade die, die mal vom geraden Weg abkommen. Und aus diesem Vertrauen darauf, in aller Ambivalenz von Gott geliebt zu sein, heraus gelingt es dann vielleicht, dem Aufruf des Paulus nachzukommen: „Darum nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Ehre.“ (Röm 15,7)

Arnold Glitsch-Hünnefeld

P.S.: Der Text von Amos Oz liest sich sehr gut und ist bedenkenswert: Amos Oz: Jesus und Judas. Ein Zwischenruf, Ostfildern, 2018 (Den Vortrag hat Oz am 25. Mai 2017 beim Deutschen Evangelischen Kirchentag in Berlin gehalten.)

Simone Lütgert /pixelio.de

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