Ruhe – Geschenk, Gebot, Verheißung

Mittwochsandacht_online

Sonntagmorgen. Ein paar Enten schwimmen in Ufernähe auf dem See. Ich sitze auf dem Balkon und sehe ihnen zu. Eine weitere kommt rasch herangeschwommen, bremst ab, schüttelt sich das Wasser aus den Federn und gesellt sich zu den anderen. Fast könnte man meinen, sie unterhalten sich miteinander. Nichts stört sie. Nicht die Schwäne, die etwas abseits im Wasser nach Futter suchen. (Immer wieder unglaublich, wie lange die mit ihren Köpfen unter Wasser bleiben können.) Auch nicht der Angler, der draußen auf dem Wasser still in seinem Boot sitzt.

Ab und zu fährt das Bähnchen zwischen Berlingen und Steckborn. Weiter ist keine Menschenseele zu sehen. Noch keine Touristen am Plätzle. Noch keine Radfahrer oder Spaziergänger. Und schon gar nicht Leute, die irgendeiner Arbeit nachgehen. Die Zeit fließt gemächlich dahin. Die Ruhe dieses Sonntagmorgens ist wie ein Vorgeschmack auf die Sommerferien, die jetzt nicht mehr fern sind.

Ruhe gehört zum Kern unseres Glaubens, zum Kernbestand der jüdisch-christlichen Tradition. Der Sabbat als Tag der Ruhe und Tag für Gott war ein Alleinstellungsmerkmal des Judentums unter den Religionen der Nachbarvölker. Die Bibel erzählt, dass Gott selbst am siebten Tag von seinem Schöpfungswerk geruht hat. Der Rhythmus der Ruhezeiten eingeschrieben in Gottes Ewigkeit – was für ein wunderbarer Gedanke. Der Ruhetag ist ein Geschenk Gottes – an sein Volk und an seine Schöpfung. Der Sabbat – und nicht der Mensch – ist für den ersten Schöpfungsbericht die Krone der Schöpfung.

Manchmal müssen Menschen zu ihrem Glück gezwungen werden. So ist der Sabbat zum Gebot geworden. Ein Tag der – soweit möglich – von Arbeit freizuhalten ist. Im Judentum wird dieses Gebot konsequenter umgesetzt als bei vielen von uns Christen. Und das durch die Geschichte des Volkes Israel hindurch. Die Sabbatruhe wurde zu einem identitätsstiftenden Merkmal dieser Glaubensgemeinschaft in all den Jahrhunderten, in denen sie ohne eigenen Staat unter die Völker verstreut gelebt hat. Die historische Leistung, dass das Judentum in dieser langen Zeit erhalten geblieben und nicht einfach in den anderen Völkern aufgegangen ist, ist einzigartig.

Vom Judentum haben wir Christen dieses Geschenk und dieses Gebot geerbt. Vom Samstag auf den Sonntag ist bei uns der Ruhetag verschoben im Gedenken an den Tag der Auferstehung Jesu. Dieser hat zwar das Gebot der Nächstenliebe über das Sabbatgebot gestellt. Aber er hat keineswegs den Ruhetag als solchen in Frage gestellt. Die Weisungen der Thora waren ihm heilig – wie jedem frommen Juden. So gelten auch für Christen das Geschenk und das Gebot, regelmäßige Zeiten der Ruhe einzuhalten. Zuallererst den siebten Tag. Darüber hinaus in größeren Abständen längere Zeiträume. In der Thora findet sich wiederholt der Gedanke eines Sabbatjahres: Alle sieben Jahre soll dem Ackerboden ein Jahr Ruhe gegönnt werden, sollen die Früchte des Brachlandes den Armen gehören, sollen die Schulden erlassen und die Sklaven freigelassen werden (z.B. Ex 23 und Dtn 15). Ferienzeiten als Zeiten der Erholung stehen auch in dieser Tradition.

Und die Ruhe dieser Tage und Wochen ist ein Vorgeschmack auf das, was Gott verheißt: „Es ist noch eine Ruhe vorhanden für das Volk Gottes“ (Hebr 4,9). Dass der Hebräerbrief diese Verheißung exklusiv auf das Christentum beschränkt, ist theologisch nicht zu halten. Sie liegt in der Konsequenz des Glaubens an den einen Gott der Juden und der Christen. Gemeinsam mit ihnen warten wir auf das Eintreffen der Verheißung der Ruhe – gerade in unruhigen Zeiten wie diesen. Da, wo uns Ruhe vergönnt ist, können wir ein Stück Vorfreude auf die Ruhe in der Ewigkeit Gottes erfahren. Diese Vorfreude wünsche ich uns allen.

Arnold Glitsch-Hünnefeld

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