Des Bruders Hüter
Mittwochsandacht_online

Am vergangenen Sonntag wurde in einer Gedenkfeier das Mahnmal für die aus Wangen deportierten Juden eingeweiht, das Schüler*innen der Demokratie- und Courage-AG angefertigt haben. Am 22. Oktober 1940 wurden fast alle Juden aus ganz Baden in das KZ im französischen Gurs verschleppt. Nur wenige überlebten. Auch die damals noch in Wangen lebenden Juden wurden nach Gurs deportiert.
Das Mahnmal, das unsere Schüler*innen geschaffen haben, zeigt die Hälfte eines zerbrochenen Hauses. Das Walmdach lässt es als ein jüdisches Haus erkennen. Wie auf übergroßen Klingelschildern sind auf dem Haus die Namen der aus Wangen verschleppten Juden angebracht.
Stellvertretend für die AG hat Lily Dinter am Sonntag eine Ansprache zu dem Mahnmal gehalten. Sie hat die Form einer lyrischen Nacherzählung gewählt. In diese hat sie Zitationen nach Jacob Picard, einem in Wangen geborenen jüdischen Dichter, und nach Gert Wolf und Hannelore König, den Kindern der letzten jüdischen Familie aus Wangen, eingewoben. Ausschnitte aus der Ansprache greife ich im Folgenden auf:
300 Jahre lang war die Nachbarschaft von Juden und Christen in Wangen von gegenseitiger Achtung geprägt. Man kannte und half sich gegenseitig. Der gläubige Dienst der jeweils anderen Religion wurde wahrgenommen und geachtet. Wangen war ihr gemeinsames Haus. In der Nazizeit gerät dieses Haus ins Wanken. Christen suchen sich einen anderen Arzt als den jüdischen. Der Herr von Gegenüber verstummt und senkt den Kopf im Vorbeigehen.
Dann der 10. November 1938. Am Tag nach der Reichspogromnacht kommt die SS auch nach Wangen und brennt die Synagoge nieder. Knapp zwei Jahre später werden die letzten sieben noch in Wangen verbliebenen jüdischen Gemeindemitglieder nach Gurs verschleppt. Das Haus zerbricht. In der Folgezeit stehlen christliche Gemeindeglieder die Grabeinfassungen des jüdischen Friedhofes und verwenden sie für ihr Blumenbeet. „Die Existenz der Juden im Dorf Wangen wird vergessen, gewaltig aus der Geschichte des Dorfes herausgerissen. Aus dem Haus gesprengt.
Nach dem Krieg und der Shoah, im Juni 1945 kehrt Nathan Wolf, der sich ins Exil retten konnte, nach Wangen zurück. Der einzige Jude des Dorfes, der die Schreckensherrschaft überlebt hat, wird willkommen geheißen. Obwohl man die Vergangenheit auf den Misthaufen der Geschichte geworfen hat, ist das Fundament des Hauses nicht völlig zerstört. Doch die Leben der verlorenen Mitglieder, werden für immer im Fundament des neuen Hauses stehen:
Nanette Wolf.
Selma Wolf.
Alfred Wolf.
Paula Wolf.
Rosel Wolf.
Karoline Sandmer.
Fanny Bernheim.
Soweit die Gedanken aus der Ansprache. „Der Herr von Gegenüber verstummt und senkt den Kopf.“ Ich habe mich an einen Abschnitt aus der Urgeschichte der Bibel erinnert gefühlt. Dort wird erzählt, wie Kain seinen Bruder Abel erschlägt, weil Gott dessen Opfer angenommen hat, das von Kain aber nicht.
Kain fühlt sich zu kurz gekommen – und das nicht einmal zu Unrecht. Die Bibel erklärt nicht, warum Gott sein Opfer nicht angesehen hat. Voll Zorn senkt Kain seinen Blick. Er kann Gott nicht in die Augen schauen. Gott fragt Kain, warum er seinen Blick senkt. Er erkennt, was sich da in Kain zusammenbraut. Und er fordert ihn auf, stärker zu sein als sein Zorn. Doch Kain nimmt seinen Bruder mit hinaus auf’s Feld und erschlägt ihn dort. Als Gott ihn zur Rede stellt und nach Abel fragt, antwortet Kain: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“
Kain fühlt sich zu kurz gekommen. So wie viele Deutsche in der Nazizeit sich gerne einreden ließen, sie kämen zu kurz und würden von den Juden ausgenutzt. So wie auch heute viele Menschen den Eindruck haben, sie kämen zu kurz, und die Schuld bei den Anderen suchen: Den Migranten, den Politikern, den Eliten. Und damals wie heute leiten sie für sich daraus das Recht ab, sich zu entsolidarisieren. „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ fragt Kain.
„Ja was denn sonst?“ möchte man ihm antworten. Und auch Gott lässt ihn mit dieser verqueren Ausrede nicht davonkommen. Er fragt ihn: „Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde.“ Gott fordert Rechenschaft von Kain. Er zieht ihn zur Verantwortung. Es gelingt Kain nicht, das Gedächtnis des Bruders im Acker zu begraben.
Kain und Abel. Sie stehen stellvertretend für die Menschheit. Wir sind alle Teil der einen Menschheitsfamilie. Die im Mai verstorbene Zeitzeugin Margot Friedländer wurde nicht müde daran zu erinnern: „Es gibt kein jüdisches, kein christliches und kein muslimisches Blut. Es gibt nur menschliches Blut.“
Und auch die Bilder von Waltraud Jacob, die in diesen Wochen hier in unserer Kirche gezeigt werden, stehen für diesen Gedanken. Es sind alte Hemden, die Menschen einst getragen haben. Den Hemden ist nicht anzusehen, ob sie von Juden, Christen, Deutschen oder Menschen aus einem anderen kulturellen Hintergrund getragen wurden. Sie alle trugen sie, weil sie Wärme, Schutz und Geborgenheit brauchten. Sie alle wurden geboren, waren Teil einer Familie, einer Gemeinschaft und trugen am Ende ihr letztes Hemd. „Memento“ – Erinnere Dich – heißt der Bilderzyklus. Die Bilder erinnern das Leben und das Leiden von Menschen – insbesondere das Leiden und das Sterben von Juden in Deutschland. Das Leiden und Sterben von Menschen, die Teil unserer Gesellschaft waren, Teil unseres gemeinsamen Hauses, Menschen wie wir.
Gott fragt nach diesen Menschen. Bei ihm sind die Opfer nicht vergessen. Als seine Ebenbilder hat er uns Menschen einander anvertraut. Er fragt uns nach unseren Brüdern und Schwestern, den Juden, den Migranten, eben den Menschen. Und er erinnert an unsere Verantwortung. Margot Friedländer hat diese Verantwortung so in Worte gefasst: „Seid Menschen, respektiert Menschen.“
Und Lily hat am Ende ihrer Ansprache gesagt: „Wir wollen mit unserem Mahnmal an die persönliche Geschichte unserer Gemeinde Wangen erinnern. An die Zerrissenheit, die Kultur, den Wiederaufbau. An die einzelnen Leben derer, die ermordet wurden. Und daran, dass wir nie vergessen. ‚Ja, man sollte also wirklich die Geschichte so erzählen, wie sie war‘ und das ist (bleibt?) unsere.“
Arnold Glitsch-Hünnefeld