Licht in der Schwebe

Mittwochsandacht_online

Seit dem vergangenen Sonntag wird im evangelischen Gemeindehaus wieder eine Kunstausstellung gezeigt. Ausgestellt sind Aquarelle der Künstlerin Renate Diedrich. „Farbe – Linie – Schnitt“ ist der Titel der Ausstellung. Farbe: Die Künstlerin spielt mit den Farben, setzt sie mal verschwenderisch ein, mal sehr zurückhaltend. Linie: Die meisten Bilder sind abstrakt. Klare Linien und einfache Formen dominieren. Oft Quadrate und Rechtecke – aber nicht nur. Neben den Farben ein Spiel mit den Formen. Einzelne Bilder zeigen Landschaften. Auch in diesen Bildern sind die Formen aus den abstrakten Bildern aufgenommen. So ist der Übergang zwischen abstrakt und figürlich fließend, bleibt vielfach in der Schwebe. Schnitt: Für mache Bilder hat die Künstlerin, die Aquarelle zerschnitten und neu arrangiert. Auch eines der Landschaftsbilder erhält so eine neue Perspektive.

Das Bild, das ich für diese Andacht ausgesucht habe, ist in zweifacher Hinsicht in der Schwebe: Zwischen zurückhaltender und kräftiger Farbgebung und zwischen Abstraktion und angedeuteter Figürlichkeit. Als erstes ist mir der Kontrast zwischen den monochromen und eher zarten Grautönen und dem kräftigen Gelb-Orange in der Mitte ins Auge gefallen. Das Bild scheint förmlich aus seinem Zentrum heraus zu leuchten – inmitten einer grauen Welt. Die schlanken, grauen Rechtecke erinnern mich an Säulen, die Linien am oberen Bildrand an die Decke eines Raumes. Ein Kirchenraum oder ein Tempel kommen mir in den Sinn.

In der Mitte das leuchtende Rechteck und eine besondere Figur oben darauf. Die Kombination hat etwas von einer Kerze. Die Figur auf dem gelben Rechteck könnte auch einen Leuchter andeuten. Auffällig ist allerdings, dass in dieser Deutung nicht die Kerzenflamme oder eben der Leuchter das Licht geben, sondern das Objekt darunter. Die Perspektive bleibt verschoben – in der Schwebe.

Durch schlichte Formen nur angedeutet, sind einer figürlichen Interpretation große Spielräume eröffnet. Wenn ich bei der Assoziation eines Tempels bleibe, könnte der angedeutete Leuchter, die Menora, der siebenarmige Leuchter im Tempel zu Jerusalem sein. In dem Fall könnte das leuchtende Objekt die Bundeslade sein, in deren Inneren die Thora, das Wort Gottes, aufbewahrt ist.

Auch der Tempel in Jerusalem ist ein Objekt in der Schwebe. Seit Jahrhunderten existiert von ihm nur noch die Westmauer, die Klagemauer in Jerusalem. Sie erinnert an die Zerstörung des Tempels durch die Römer und zugleich an das erwartete Kommen des Messias. Sie bleibt in der Schwebe zwischen Trauer und Heilserwartung. Sie ist das räumliche Zentrum des jüdischen Glaubens. Dabei war der Tempel von Beginn an in der Schwebe. Ursprünglich war er als Zelt gedacht, dass das Volk Israel auf seinem Zug durch die Wüste begleiten sollte. Eher widerwillig gibt Gott dem Wunsch der Menschen nach einem aus Stein gebauten Tempel nach. König David selbst ist dieser Bau noch nicht vergönnt. Erst sein Sohn Salomo darf den ersten Tempel errichten.

Gott braucht keine feste Wohnstatt. Er will sich nicht festlegen lassen. Er ist ein lebendiger Gott. Er ist anwesend und doch in der Schwebe. Gott wohnt auf dem Zion, dem Hügel, auf dem Jerusalem gebaut ist. Aber nicht so, dass er auf diesen Ort festgelegt wäre. Er ist kein Schutzpatron, kein Hausgötze, wie es sie in den Nachbarvölkern Israels im Alten Orient zu Hauf gab.

Gott strebt über alle Begrenzungen hinaus. Im Jesajabuch wird verheißen, wie das Licht, das vom Zion ausgeht, alle Völker erstrahlt und sie sich auf den Weg dorthin machen, um Frieden für die Welt zu finden. „Viele Völker machen sich auf den Weg und sagen: »Auf, lasst uns hinaufziehen zum Berg des Herrn, zum Haus, in dem der Gott Jakobs wohnt! Er soll uns seine Wege lehren. Dann können wir seinen Pfaden folgen.« Denn von Zion her kommt Weisung, das Wort des Herrn geht von Jerusalem aus. Er sorgt für Recht unter den Völkern. Er schlichtet Streit zwischen mächtigen Staaten. Dann werden sie Pflugscharen schmieden aus den Klingen ihrer Schwerter. Und sie werden Winzermesser herstellen aus den Eisenspitzen ihrer Lanzen. Dann wird es kein einziges Volk mehr geben, das sein Schwert gegen ein anderes richtet. Niemand wird mehr für den Krieg ausgebildet.“ (Jes 2,3.4) Im Johannesevangelium sagt Jesus ausdrücklich: „Das Heil kommt von den Juden.“ (Joh 4,22)

Noch steht die politische Situation diesen Heilsverheißungen entgegen. Im Schatten der Schlagzeilen aus der Ukraine ist in Israel der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern einmal mehr aufgeflammt. Der Konflikt währt schon länger, als es den modernen Staat Israel gibt. Er ist so verfahren, dass es schwer fällt zu glauben, dass er irgendwann gelöst werden kann.

Und doch ist da diese Verheißung, dass Gott den Zionsberg zum Zentrum seines Friedens machen will. In der Schwebe scheint das Licht aus Jerusalem in das Grau der oft so düsteren Welt. Gott ist anwesend in unserer Wirklichkeit. Nicht in Stein gemeißelt in Tempeln oder Kirchen. Sondern in der Schwebe, beweglich und lebendig im Heiligen Geist. Wir können ihn nicht festnageln. Aber wir können ihn entdecken wie in einem Kunstwerk. Sein Licht möge auch unsere Augen erleuchten.

Arnold Glitsch-Hünnefeld