„Höllensturz“

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© Verena Fuchs: Höllensturz 2 – Bleistiftzeichnung

Im vergangenen Sommer bin ich Rahmen einer Ausstellung in der Auferstehungskirche in Freiburg auf ein Bild der Künstlerin Verena Fuchs gestoßen. Es trägt den Titel „Höllensturz“. Beim ersten Hinsehen hat mich die filigrane Bleistiftzeichnung fasziniert. Sie fängt die Zartheit und Feingliedrigkeit der Insekten wunderbar ein. Selten nehme ich dieses kleine Getier aufmerksam wahr. Manchmal im Sommer, wenn die Libellen über dem See spielen oder die Schmetterlinge ihre Farbenpracht zeigen. Meistens aber beachte ich Insekten wenig oder verscheuche sie, weil sie mir lästig sind.

Verena Fuchs setzt mit ihrem Bilderzyklus „Höllensturz“ diesen Insekten ein Denkmal. Und das ist wörtlich zu verstehen. Denn im Hintergrund steht die Erkenntnis, dass die Möglichkeit, echte Insekten in der Natur zu sehen, immer seltener wird. Auslöser für die Bilder war für Verena Fuchs eine Studie aus dem Jahr 2017. In den darin untersuchten Gebieten war die absolute der Zahl der Fluginsekten in den Jahren zwischen 1989 und 2017 um 75% zurückgegangen. Die Zahl der Arten hatte sich im selben Zeitraum um mehr als ein Drittel reduziert. Wenn ich darüber nachdenke, passen dazu einige meiner eigenen Erfahrungen. Wenn wir früher mit dem Auto in den Urlaub gefahren sind, mussten wir regelmäßig die Windschutzscheibe von den zermatschten Insekten reinigen, die sich darauf gesammelt hatten. Heute können wir bis nach Schweden fahren, ohne einmal die Scheiben säubern zu müssen. Und einen Schmetterling zu sehen, ist mittlerweile ein seltenes Glück.

Höllensturz 2 - Bleistiftzeichnung von Verena Fuchs

Die Insekten verschwinden allmählich von der Bildfläche. Und die genannten Zahlen zeigen, wie dramatisch der Rückgang ist. Diese Dramatik drückt sich in dem Namen aus, den Verena Fuchs den Bildern gegeben hat: „Höllensturz“. Damit greift sie ein Motiv aus der Malerei der Renaissance auf. Ausdrücklich bezieht sie sich auf Hieronymus Bosch. In dessen Polyptychon „Visionen des Jenseits“ finden sich einerseits das Motiv der zur Hölle fahrenden Verdammten und andererseits der Lichtkreis, der auch in dem Bild von Verena Fuchs zu sehen ist. Bei Bosch ist er im Teil „Aufstieg der Seligen“ zu sehen. Die Seligen werden von den Engeln ins Licht getragen. Aufstieg im Kontrast zum Fall. Die Verbindung von Licht und Fall findet sich in einem weiteren Gemälde – diesmal des Barock. In Peter Paul Rubens‘ „Höllensturz der Verdammten“ fallen die Verdammten aus der Sphäre des Lichts in die ewige Verdammnis.

Fuchs greift in ihrem Bild beide Richtungen auf. Die Insekten fliegen ins Licht. Doch dieser Flug lässt sie zugleich ins Verderben stürzen. Erschöpft kommt das Insekt in der Helligkeit um, so schreibt sie in ihren Gedanken zu den Bildern. Bei genauerem Hinsehen kann man erkennen, dass viele der gezeichneten Insekten versehrt und dem Tod geweiht sind. „Der Flug ins Licht also als Allegorie auf den Fortschrittsoptimismus, der uns ins Verderben zu führen droht?“ fragt die Künstlerin.

Manche mögen sich jetzt fragen, warum man so viel Aufhebens um die – doch überwiegend lästigen – Insekten machen soll. Den Zwetschgenkuchen ohne störende Wespen essen zu können, hätte doch was – oder? Aber das Verschwinden der Insekten ist ein massiver Eingriff ins Ökosystem. Insekten werden gebraucht, um Pflanzen zu bestäuben. Insekten dienen anderen Tieren als Nahrungsmittel. So lästig manche auch sind – ohne Insekten kippt unser Ökosystem. Erst verschwinden die Insekten – und später der Mensch? Das steht zu befürchten. Denn die Natur kann zwar ohne den Menschen bestehen, aber der Mensch nicht ohne die Natur. Der „Höllensturz“ der Insekten als Anfang vom Ende des menschlichen Zeitalters?

Als Hauptursache für das Insektensterben wird die moderne, intensive Landwirtschaft genannt. Bevor wir es uns jetzt aber zu einfach machen und auf die Landwirte schimpfen, die zu viel Spritzmittel einsetzen, sollten wir uns fragen, warum sie das tun. Und da landen wir schnell bei unserem eigenen Lebensstil. Wir alle, die wir hier zur Schule gehen, hier arbeiten, hier leben, haben einen deutlich zu großen ökologischen Fußabdruck. Immerhin – allmählich scheint sich etwas im Bewusstsein zu verändern. Insekten werden nicht mehr vor allem als lästig betrachtet. Ein paar Insektenhotels in den Gärten oder auf den Balkons werden aber das Insektensterben nicht aufhalten. Wir müssen uns schon ein bisschen ernsthafter fragen, was wir dazu beitragen können, um den Höllensturz der Insekten und der Menschen zu bremsen.

Woher können wir die Hoffnung nehmen, dass das wider den Augenschein noch etwas werden kann? Ich habe es gerade in verschiedenen Jahrgangsstufen mit Texten aus der Urgeschichte der Bibel zu tun. Dort werden in mythologischer Weise Grundgegebenheiten von Welt, Mensch und Gott verhandelt. In den Schöpfungsberichten erhält der Mensch, den Auftrag, die Schöpfung zu bebauen und zu bewahren. Der neu geschaffene Lebensraum soll zwischen Menschen und Tieren so aufgeteilt werden, dass alle leben können. Dass die Menschen dieser Verantwortung nicht gerecht werden, wird schon wenige Kapitel weiter deutlich. „Das Dichten und Trachten der Herzen des Menschen ist böse von Jugend auf“ stellt Gott fest und beschließt, dieses Experiment durch die Sintflut zu beenden.

Ganz zieht er das allerdings doch nicht durch. Die Geschichte von Noahs Arche ist bekannt. Auf ihr ist nicht nur für den Menschen Platz, sondern für ein Paar aus jeder Spezies auf Erden: Von den reinen und den unreinen Tieren über die Vögel bis hin zum Gewürm. Also wohl auch für die Insekten. Mit Noahs Familie und all diesen Tierpaaren macht Gott nach der Flut einen Neuanfang. Und weil er inzwischen erkannt hat, dass der Mensch es immer noch nicht schaffen wird, gut zu sein und das Richtige zu tun, gibt er Noah ein Versprechen: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ Der Regenbogen soll das Zeichen sein, dass Gott an seine Zusage erinnert, wenn der Mensch ihn mal wieder zur Verzweiflung treibt.

So wie wir es möglicherweise aktuell tun. Dieses Zeichen und dieses Versprechen Gottes mag uns ein Ansporn sein, gegen den Höllensturz anzuarbeiten – dem inneren Schweinehund und allen schlechten Prognosen zum Trotz.

Arnold Glitsch-Hünnefeld