Entschuldigung!

Mittwochsandacht_online

Dieter Schütz / pixelio.de

Einer war anders. Josef, der zweitjüngste von Jakobs Söhnen, war verträumt. Er fand oft Wege, der Arbeit aus dem Wege zu gehen, mit der sich die älteren Brüder abrackerten. Er trug gern schöne Kleider. Und ausgerechnet er war der Liebling des Vaters. Die Brüder ließen ihn ihren Unmut spüren. Heute würde man sagen: Sie mobbten ihn. Das ging so weit, dass sie ihn an Sklavenhändler verkauften und dem Vater weismachten, er sei von wilden Tieren getötet worden.

Am vergangenen Mittwoch hatten meine Siebtklässlerinnen und Siebtklässler an Stelle des Religionsunterrichts ein Training zu Gewaltprävention. Manches von dem, was sie da gelernt haben, passte sehr gut für eine Religionsstunde. Klar, einiges von dem, was die Frau von Polizei zu erzählen hatte, kannten die Schülerinnen und Schüler längst. Trotzdem war es sicher nicht falsch, mal wieder daran erinnert zu werden. Anderes war – zumindest mir – nicht mehr so geläufig oder auch ganz neu.

Zum Beispiel, dass der seelische Schmerz, den Mobbing bei den Opfern auslöst, in denselben Arealen des Gehirns gemessen werden kann, wie körperlicher Schmerz. Etwa, wenn einem Menschen eine Nadel in die Fußsohle gestochen wird. Mobbing richtet bei den Opfern richtig schlimme Verletzungen an. Sprüche wie „Es war doch nur ein Scherz“ oder „Es war nicht so gemeint“ sind da völlig daneben. Mobbing ist immer schlimmer, als diejenigen sich klar machen, die andere mobben.

Für die Opfer ist wichtig zu wissen, dass sie sich nicht – vor möglicherweise noch Schlimmerem – schützen, indem sie die Quälereien über sich ergehen lassen. Es ist gut und richtig, wenn sie sich Hilfe suchen – bei ihren Eltern, bei Lehrerinnen oder Lehrern ihres Vertrauens, bei der Schulsozialarbeiterin oder dem Schulpfarrer oder, wenn nötig, bei der Polizei.

Im Kern war das Ziel des Trainings natürlich, Mobbing und andere Formen von Unrecht oder Gewalt in der Schule zu verhindern. Aber es wäre blauäugig zu meinen, dass das immer gelingt. Ich mag meine Schülerinnen und Schüler und auch meine Kolleginnen und Kollegen wirklich gerne. Deshalb bin ich geneigt zu denken: „Bei uns gibt es das doch nicht.“ Aber die Statistik sagt etwas anderes: Es gibt keine Schule, ja es gibt noch nicht einmal eine Klasse, in der Mobbing nicht vorkommt. Oft läuft es allerdings so verdeckt, dass es von außen nicht oder kaum zu erkennen ist.

Weil also davon auszugehen ist, dass solche Formen der Gewalt auch bei uns immer wieder vorkommen, war noch etwas anderes wichtig, worauf die Dame von der Polizei eingegangen ist. „Wenn ihr Mitschülerinnen oder Mitschüler beleidigt oder anders verletzt habt, entschuldigt euch. Das wird auch euch Erleichterung verschaffen. Ihr legt die Last der Schuld von euren Schultern ab.“ Ich denke, da ist etwas dran. Aber es stimmt nur zum Teil.

Ja, sich zu entschuldigen ist ein wichtiger Schritt. Und es fällt oft nicht leicht. Ich kann mich an Situationen erinnern, in denen ich mich sehr überwinden musste und lange gebraucht habe, bis ich den Weg zu dem Menschen gefunden habe, den ich verletzt hatte. Umgekehrt kann ich mich daran erinnern, wie mich in meiner Schülerzeit mein bester Freund einmal sehr gekränkt hatte. Ich weiß heute nicht mehr, worum es ging, aber wir sind uns damals über Wochen aus dem Weg gegangen. Irgendwann haben sich seine Eltern darüber gewundert. Sie haben herausgefunden, was vorgefallen war, und er musste zu mir kommen und sich entschuldigen. Ich kann mich erinnern, wie er heulend vor unserer Haustür stand, weil ihm das so schwergefallen ist. Aber ich war einfach froh, dass wir wieder Freunde sein konnten.

Den Weg zu dem Menschen zu finden, den ich verletzt habe, ist ein wichtiger Schritt. Und es verschafft tatsächlich ein Stück Erleichterung, wenn es gelingt, zu meinem Fehlverhalten zu stehen: „Ja, ich habe das getan. Ja, es war falsch. Es tut mir leid.“ Es befreit vor dem Versteckspiel – vor mir selbst und vor den anderen.

Ent-schuldigt bin ich damit aber noch nicht. „Ich entschuldige mich“ ist eigentlich die falsche Formulierung. Ich kann mich nicht selbst von der Schuld befreien. Zu Vergebung gehören immer zwei. Deshalb muss es eigentlich heißen: „Ich bitte um Entschuldigung.“

Das macht es einerseits noch einmal schwerer. Ich liefere mich ein Stück weit meinem Gegenüber aus. Er kann mir die Entschuldigung auch verweigern. Und je nachdem, was ich getan habe, kann ich ihm das nicht einmal verdenken. Darum, meinem Gegenüber diese souveräne Entscheidung zuzugestehen, komme ich nicht herum. Entschuldigung kann nicht eingefordert werden, sondern es kann nur darum gebeten werden.

In den meisten Fällen habe ich aber die Erfahrung gemacht, dass Menschen dazu bereit waren, mir meine Fehler zu vergeben. Wenn ich die Verantwortung für mein Verhalten übernommen habe, wenn es mir ehrlich leidgetan hat und mein Gegenüber mir abgenommen hat, dass ich mein Verhalten ändern würde, dann waren die Menschen in der Regel bereit dazu, mir eine neue Chance zu geben.

Ein Grund dafür ist wohl, dass auch sie unter der gestörten Beziehung gelitten haben. Wie gesagt: Als damals mein bester Freund weinend vor der Tür stand, war mir nicht mehr wichtig, was er getan hatte. Heute kann ich mich gar nicht mehr daran erinnern, was passiert war. Aber ich erinnere mich noch, wie froh ich war, dass wir wieder Freunde waren.

Auch Vergebung ist nicht immer leicht. Aber sie ist der Schlüssel zur Versöhnung. Und Versöhnung ist ein Geschenk für alle Beteiligten. So kann manchmal aus einem schlimmen Fehlverhalten dennoch etwas Gutes wachsen. Am Ende der Josefsgeschichte, nach vielen vielen Jahren sagt Josef zu seinen Brüdern: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen.“

Möge es uns gelingen, es nicht böse mit unseren Mitmenschen zu machen. Möge es uns gelingen, nicht mitzuziehen, wenn andere gemobbt werden. Möge es uns gelingen, die Courage zu haben, uns stattdessen an ihre Seite zu stellen. Aber wo wir andere doch verletzen, möge Gott uns den Mut schenken, um Entschuldigung zu bitten. Und wo andere uns verletzen, möge Gott uns ein weites Herz schenken, um zu vergeben. Möge mit seiner Hilfe Versöhnung gelingen.

Arnold Glitsch-Hünnefeld