Durch Brüche hindurch ins Weite

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Alle zwei Jahre wird im Auftrag des katholischen Hilfswerks ein Hungertuch für dessen Fastenaktion gestaltet. Es lädt dazu ein, sich mit Hilfe von Kunst der Passion, dem Leiden und Sterben Jesu anzunähern. Und es lädt dazu ein, den Blick auf die Nöte der Welt zu richten und Solidarität – gerne auch in Form von Spenden – mit den Notleidenden zu zeigen.

In diesem Jahr ist das Hungertuch ein Triptychon, ein dreiteiliges Bild. Wenn ich mir zunächst den mittleren Teil des Bildes anschaue, sehe ich ein Gewirr von schwarzen Linien auf hellem Grund. Darüber hinaus fallen mir ein paar goldene Tupfer und ein goldener Schimmer in der Mitte auf. Verschlungene Wege, ein Chaos und doch ein Schein von Licht. Der Anfang der Bibel, der Anfang der Schöpfung fällt mir ein. „Und die Erde war wüst und leer – tohu wa bohu – und Finsternis lag auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über den Wassern.“ (Gen 1,2)

Der Blick auf das ganze Bild offenbart, dass die Linien durchaus kein willkürliches Chaos sind, sondern einen knöchernen Fuß abbilden. „Du stellst meine Füße auf weiten Raum.“ Dieses Zitat aus Ps 31 hat die chilenische Künstlerin Lilian Moreno Sánchez als Titel für ihr Bild gewählt. Gestaltet hat sie es während der Pandemiezeit in ihrem Atelier in Augsburg. Verarbeitet hat sie ein weißes Tuch und dazu Kohle und Gold verwendet. Die Kohlezeichnung bildet das Röntgenbild eines Fußes ab.

Dreigeteilt ist der Fuß durch die Aufteilung des Bildes. Aber nicht nur die Struktur des Triptychons bricht den Blick. Vorderfuß und die Knochen oberhalb des Sprunggelenks sind in klaren Linien gezeichnet. Dazwischen das erwähnte Gewirr. Ein Bruch. Es ist ein gebrochener Fuß. Wodurch? Handelt es sich um einen Ermüdungsbruch? „Jünglinge werden müde und matt, und Männer straucheln und fallen.“ (Jes 40,30) Ermüdet vom langen Weg durch die Pandemie, dessen Ende immer wieder in die Ferne rückt? Oder vom weiten Weg der Flucht oder der Vertreibung?

Anders als ein Ermüdungsbruch ist dies aber kein glatter Bruch. Er ist kompliziert. Ein Trümmerbruch. Die Folge von brutaler Gewalt? Wurde hier jemandem buchstäblich auf die Füße getreten? Von einem „Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht“ (Jes 9,4), wie im Jesajabuch der Krieg umschrieben wird? Verletzt ist hier ein Mensch. Versehrt eine Existenz. Wir sprechen von Kriegsversehrten. Sie behalten Traumata zurück – an Leib und Seele. Eine Existenz kann auch aus anderen Gründen in die Brüche gehen. Eine schlimme Krankheit. Ein schwerer Verlust. Zerbrochene Hoffnungen und Lebenspläne. Auch in der Bibel standen die Jünger vor den Trümmern ihrer Existenz. Ihre Hoffnungen starben mit Jesus am Kreuz. Und auch durch das Leben Jesu selbst und sein Vertrauen auf Gott geht mit dem Karfreitag ein Bruch. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34) klingt sein Schrei von Golgatha.

Das Bild des gebrochenen Fußes ist ein Röntgenbild. Eine Aufnahme aus einer Arztpraxis oder einer Klinik. Der Bruch ist nicht das Ende. Ein Arzt oder eine Ärztin nimmt sich der Verletzung an. Die Ahnung einer Aussicht auf Heilung deutet sich an. „Ich bin der Herr, dein Arzt“ (Ex 15,26) sagt Gott von sich selbst. Dazu passt, dass in der Mitte des Fußes, zwischen den Trümmern kaum wahrnehmbar ein goldener Faden in das Tuch eingearbeitet ist. Hält er die Bruchstücke zusammen? Der Zickzackstich lässt an eine Feder denken, vielleicht ein hochmodernes Implantat. Gold als Hoffnungsschimmer inmitten der Trümmer. Der Geist Gottes schwebt über dem Chaos.

Durch das Gold deutlich hervorgehoben sind auch die Blüten um den Fuß herum. Ein Sinnbild für Linderung des Schmerzes, für heilende Kräfte? Aus manchen Blüten werden Salben gewonnen. Das Johannesevangelium erzählt, wie Jesus beim letzten Abendmahl seinen Jüngern die Füße wäscht. Wohltuende Erfrischung nach den weiten Wegen, die sie gegangen sind. Gott kommt den geschundenen Menschen ganz nahe. Als Therapeut, als Arzt. „Heile du mich, Herr, so werde ich heil; hilf du mir, so ist mir geholfen.“ (Jer 17,14)

Was im Weiß fast nicht zu sehen ist, was man wissen muss, um es zu erkennen: Die goldenen sind nicht die einzigen Blüten auf dem Bild. Der ganze Stoff ist von Blüten durchwoben, von denen einzelne durch das Gold nur hervorgehoben werden. Eine Ahnung, dass jenseits des Winters ein neuer Frühling kommen wird. Leben jenseits der Starre einer Gipsschiene. Die Verheißung von Spaziergängen und Wanderungen über blühende Wiesen. „Du stellst meine Füße auf weiten Raum.“

Bis dahin ist der Weg möglicherweise noch weit. Wann die Pandemie enden wird, wer weiß das schon? Ein Frieden ist angesichts der verhärteten Fronten schwer vorstellbar. Nach dem Bruch muss das Laufen erst wieder gelernt werden. Das bedeutet Anstrengung, harte Arbeit, Überwindung. Selbst auf blühenden Wiesen sind die ersten Schritte nach dem Bruch tastend und unsicher. Aber nach und nach gewinnen sie an Kraft und Sicherheit. „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“ (Jes 40,31)

Der Aufbruch kann gewagt werden. Ein neues Leben ist möglich. Frieden jenseits der Trümmer. „Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt. Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Friede-Fürst.“ (Jes 9,4f)

Leben aus der Auferstehung. Auch durch Schmerz und die Brüche des Lebens hindurch verheißt Gott neue Lebensperspektiven. Das mag uns Kraft und Zuversicht geben – trotz allem. „Ich freue mich und bin fröhlich über deine Güte, dass du mein Elend ansiehst und kennst die Not meiner Seele und übergibst mich nicht in die Hände des Feindes; du stellst meine Füße auf weiten Raum.“ (Ps 31,9f)

Arnold Glitsch-Hünnefeld