Tag der Befreiuung
Mittwochsandacht_online
Am vergangenen Freitag jährte sich zum 75sten Mal das Ende des zweiten Weltkriegs. Aktuell wird darüber diskutiert, ob der 8. Mai zu einem bundesweiten Feiertag werden soll. Gegner dieses Vorhabens wenden ein, dass die Geschehnisse des 8. Mai 1945, das Leid, das zuvor geschah, und das Leid, das noch folgen sollte, kein Anlass zum Feiern sind.
Dass ein Feiertag kein fröhlicher Festtag sein muss, ist Christen sehr bewusst. Sie begehen den Karfreitag, der in Deutschland – zu Recht – ein gesetzlicher Feiertag ist, als einen Tag des stillen Gedenkens. Unabhängig davon, ob der 8. Mai ein Feiertag wird, bleibt das Gedenken unerlässlich – auch und gerade im Blick auf die Gegenwart und Zukunft.
Vor 35 Jahren hat der damalige Bundespräsident, Richard von Weizsäcker, eine Rede zum 8. Mai gehalten, die damals auf große Resonanz gestoßen ist. Der zentrale Satz lautete: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.“ Dass dieser Satz von einem deutschen Staatsoberhaupt so unmissverständlich ausgesprochen wurde, war neu, wurde von vielen Menschen dankbar aufgenommen, stieß aber damals in Teilen der Bevölkerung auch auf heftigen Widerspruch.
Dabei war Weizsäcker fortgefahren: „Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten. Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte. Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“
Einen längeren Abschnitt seiner Rede widmete Weizsäcker der Notwendigkeit des Erinnerns. „Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“ Dabei erinnerte er daran, dass Erinnerung zum Wesenskern des jüdischen Glaubens gehört, und zitierte eine jüdischen Weisheit: „Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ Und er fuhr fort: „Die Erinnerung ist die Erfahrung vom Wirken Gottes in der Geschichte.“
Das babylonische Exil nahm seinen Ausgang mit einem Krieg, den Juda gegen die Warnungen von Jeremia, Ezechiel und anderen Propheten vom Zaun gebrochen hatte. Diese hatten erklärt, dass dieser Krieg nicht Gottes Wille sei und Gott von seinem Volk vielmehr Vertragstreue einforderte. So waren die Niederlage von 587 v. Chr. und das folgende Exil für die biblischen Autoren keine Zeichen dafür, dass Gott sein Volk vergessen hätte. Die Menschen konnten sich des Beistands Gottes weiterhin sicher sein, sofern sie seinen Bund hielten und den Versuchungen des Großmachtstrebens widerstanden.
Erinnern heißt für das jüdische und das biblische Denken, die Geschichte zu vergegenwärtigen. Die Vergangenheit wird so zu einem Teil der eigenen Identität. Weizsäcker formulierte ähnlich: „Erinnern heißt eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, daß es zu einem Teil des eigenen Inneren wird.“ Und dies gilt auch für die nachfolgenden Generationen. „Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird.“ Diese Worte habe ich 1985 – ich war damals Schüler in der Oberstufe – auch als an mich gerichtet begriffen.
Und sie behalten bis heute ihre Gültigkeit. Der aktuelle Bundespräsident, Frank-Walter Steinmeier hat in seiner Rede zum 8. Mai am vergangenen Freitag an die Rede von Weizsäcker angeknüpft: „‘Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.’ Ich glaube: Wir müssen Richard von Weizsäckers berühmten Satz heute neu und anders lesen. Damals war dieser Satz ein Meilenstein im Ringen mit unserer Vergangenheit.
Heute aber muss er sich an unsere Zukunft richten. ‘Befreiung’ ist nämlich niemals abgeschlossen, und sie ist nichts, was wir nur passiv erfahren, sondern sie fordert uns aktiv, jeden Tag aufs Neue. Damals wurden wir befreit. Heute müssen wir uns selbst befreien! Befreien von der Versuchung eines neuen Nationalismus. Von der Faszination des Autoritären. Von Misstrauen, Abschottung und Feindseligkeit zwischen den Nationen. Von Hass und Hetze, von Fremdenfeindlichkeit und Demokratieverachtung – denn sie sind doch nichts anderes als die alten bösen Geister in neuem Gewand.“
Und auch Steinmeier hält fest: „Es gibt kein Ende des Erinnerns. Es gibt keine Erlösung von unserer Geschichte. Denn ohne Erinnerung verlieren wir unsere Zukunft.“ Und den Jüngeren – mittlerweile drei Generationen nach Kriegsende – ruft er zu: „Auf euch kommt es an! Ihr seid es, die die Lehren aus diesem furchtbaren Krieg in die Zukunft tragen müssen!“
Ich wünsche mir, dass wir diese Verantwortung immer wieder auf’s Neue annehmen, an jedem 8. Mai – ob Feiertag oder nicht – und auch an jedem anderen Tag des Jahres. Dass wir den Versuchungen von nationaler Abschottung und Fremdenfeindlichkeit mutig entgegentreten und uns dabei von Gott geleitet und getragen wissen.
Arnold Glitsch-Hünnefeld