„Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen“

Mittwochsandacht_online

Steffen Drescher / pixelio.de

Im Evangelischen Gemeindehaus ist seit dem vergangenen Sonntag wieder eine Ausstellung zu sehen. Gezeigt werden Werke der Künstlerin Mascha Schwerdt-Schneller aus Radolfzell. Zwischen den Bildern – unter anderem Portraits und Landschaftsbildern – finden sich auch einige Objekte aus Holz. Es gibt viel zu entdecken. Das Gemeindehaus bekommt einmal mehr durch die Ausstellung eine besondere Atmosphäre.

Ich habe mir für diese Andacht das Bild „Lockdown“ ausgesucht. Es hat in mir verschiedene Assoziationen ausgelöst: Eine Frau – gefangen hinter Drahtgittern. Erinnerungen an die Grenzzäune während des Lockdowns werden wach. Jenseits des Zauns die Freiheit. Eine Landschaft in warmen Farben, ein Dorf mit Kirchturm, Wasser. Auf der anderen Seite des Sees liegt die Schweiz – zum Greifen nah, doch während des Lockdowns unerreichbar.

Der Blick der Frau richtet sich jedoch nicht auf den Sehnsuchtsort. Er geht in den Spiegel und trifft sich dort mit meinem Blick, dem Blick des Menschen, der das Bild betrachtet. Die Lippen der Frau sind geschlossen, sie wendet mir den Rücken zu. Vordergründig kommuniziert sie nicht mit mir. Indirekt über den Spiegel, über ihren Blick aber irgendwie doch. Aber gilt ihr Blick wirklich mir oder geht er ins Leere? Rilkes Panther fällt mir ein: „Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, daß er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt.“ Lockdown – ausgeschlossen aus der Welt und eingeschlossen in sich selbst.

Im Gemeindehaus liegt ein Zeitungsartikel aus. Ein Interview mit Mascha Schwerdt-Schneller aus dem Dezember des letzten Jahres. Ich denke nicht, dass es nur deshalb ausliegt, weil einem Infokasten einige Informationen über die Künstlerin zu entnehmen sind. Für die Eckdaten ihrer Biografie hätte es den Artikel nicht gebraucht. Ich verstehe das Interview als Teil der Ausstellung.

In der Mitte der Zeitungsseite ist ein Foto. Ich entdecke Vergleichspunkte zu dem Bild: Diesmal blickt die Frau – in dem Fall die Künstlerin selbst – mich direkt an und dreht mir nicht den Rücken zu. Um ihre Lippen spielt ein Lächeln – etwas melancholisch vielleicht. Wieder hält die Frau etwas in der Hand, woraus ich angeschaut werde. Diesmal allerdings keinen Spiegel, sondern ein Foto – ein Bild im Bild. Ein Bild ihres Vaters, der seinerseits – in ganz ähnlicher Haltung – ein Buch in der Hand hält. Seine Autobiographie, die er gemeinsam mit seiner Tochter, der Künstlerin, veröffentlicht hat. „Als Gott und die Welt schliefen“ heißt sie. Ein Raum von Referenzen, von Verweisen spannt sich auf. Ein Kommunikationsraum.

„Gott und die Welt schliefen.“ Otto Schwerdt war Jude. Als er 13 Jahre alt war, wurde seine Familie von den Nazis aus Braunschweig nach Kattowitz in Polen umgesiedelt. Sieben Jahre lebten sie in Ghettos, bevor sie 1943 nach Auschwitz deportiert wurden. Otto und sein Vater wurden am Ende des Krieges im KZ Theresienstadt befreit. Seine Mutter und seine zwei Geschwister haben das KZ nicht überlebt. „Gott und die Welt schliefen.“ Weder Gott noch die Welt haben den millionenfachen Mord an den Juden verhindert.

Trotzdem erzählt Mascha Schwerdt-Schneller, dass sie ihren Vater als einen sehr lebensbejahenden und optimistischen Menschen erlebt hat. Ein Lächeln umspielt auch seine Lippen auf dem Bild. Kleinere Katastrophen im Alltag waren für ihn nicht so schlimm. In Regensburg war er Vorsitzender der jüdischen Gemeinde und engagierte sich unter anderem sehr für den Dialog mit anderen Religionen. Obwohl Gott in der Shoah geschlafen hat, hielt Otto Schwerdt offenbar am Glauben an den Gott Israels fest. Und obwohl die Welt den Juden nicht zu Hilfe gekommen war, blieb er offenbar interessiert am Gespräch mit Menschen aus anderen Glaubenswelten. Ich finde das bemerkenswert.

Ich habe manchmal den Eindruck, dass wir in der Zeit der Lockdowns während der Pandemie das Lächeln und das Miteinander-Sprechen ein Stück weit verlernt haben. Anfangs hatte ich die stille Hoffnung, dass wir als Gesellschaft etwas aus dieser Zeit lernen würden. Dass wir wieder besser Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden könnten und dass wir als Menschen trotz der erzwungenen körperlichen Distanz zusammenrücken würden. Es gab zwar Menschen, die eine große Solidarität an den Tag gelegt haben. Aber insgesamt hat sich diese Hoffnung nicht erfüllt. Im Gegenteil: Mehr und mehr haben sich Gräben zwischen Menschen aufgetan: Zwischen Impfgegnern und Impfbefürwortern; zwischen „Schwurblern“ und „Schlafschafen“. Sprachlosigkeit und Feindseligkeit gingen und gehen miteinander einher. Heute setzen sich die Frontlinien in anderen Fragen fort: Waffenlieferungen an die Ukraine oder Friedensgespräche mit Putin? Energiesicherheit oder Klimaschutz? Und ich erlebe auch in unseren Schulräumen, dass Kommunikation nach dieser Zeit manchmal noch schwerfällt.

Der Raum von wechselseitigen Verweisen, den die Ausstellung im Gemeindehaus aufspannt, ist das Gegenteil von Sprachlosigkeit. Die Künstlerin, ihr Vater und die Besucherinnen und Besucher der Ausstellung treten in ein stilles Gespräch ein. Auch die Kunstwerke kommunizieren auf vielfältige Weise miteinander. Das Bild, das ich ausgewählt habe, gehört zu den Düstersten. Im Kontrast dazu stehen zahlreiche farbenfrohe Landschaftsbilder. Neben eher naturalistischen Portraits finden sich buchstäblich ver-rückte. Dazu zählen für mich auch einige der Holzobjekte: Eigenwillige Holzköpfe sehe ich darin. Ein anderes Bild, das ich in die engere Wahl für diese Andacht gezogen habe, trägt der Titel „Träumereien“. Es arbeitet mit Verfremdungen und zieht mich als Betrachter auf seine Weise in einen Dialog.

Der Ort der Ausstellung ist das evangelische Gemeindehaus. Der größere Raum wird regelmäßig für den Gottesdienst genutzt. Deshalb ist für mich auch Gott Teil der Kommunikationsgemeinschaft dieser Ausstellung. Ich glaube daran, dass er uns aus unserer Sprachlosigkeit befreien kann. Aus unserem Eingeschlossensein in uns selbst, wie das Bild „Lockdown“ es einfängt. Auch wenn er uns manchmal zu schlafen scheint, kann er uns doch in Bewegung setzen. In 1.Sam 22 dankt David Gott für die Errettung aus Bedrängnis und Todesgefahr. Das ganze Kapitel ist ein langer Lobpsalm. Manche Zeile aus diesem Psalm schwingt für mich in der Ausstellung mit: „Herzlich lieb habe ich dich, Herr, meine Stärke! Herr, mein Fels, meine Burg, mein Erretter. Des Totenreichs Bande umfingen mich, und des Todes Stricke überwältigten mich. Als mir angst war, rief ich den Herrn an und schrie zu meinem Gott. Da erhörte er meine Stimme von seinem Tempel, und mein Schreien kam vor ihn zu seinen Ohren. Er führte mich hinaus ins Weite, er riss mich heraus; denn er hatte Lust zu mir. Mit dir kann ich Wälle erstürmen und mit meinem Gott über Mauern springen.“

Arnold Glitsch-Hünnefeld

Die Bilder zur Andacht finden sich im link.

Die Ausstellung ist wie folgt geöffnet:

Malerei und Holzobjekte von Mascha Schwerdt-Schneller

Ausstellung im Evangelischen Gemeindehaus Gaienhofen

23.04. bis 21.05.2023

Öffnungszeiten: samstags + sonntags von 15 bis 18 Uhr; sowie am 01.05. + 18.05.2023 von 15 bis 18 Uhr