Mein Leben – mit seinen Brüchen bei Gott bewahrt

Wir wünschen ein gesegnetes Osterfest!

Hinweis: Der Ostergottesdienst wurde aufgezeichnet und kann HIER nachverfolgt werden.

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ schreit Jesus, bevor er stirbt. So überliefern es das Markus- und das Matthäusevangelium. Worte aus dem 22. Psalm.

Wir haben von Menschen gehört, die Ähnliches erleben wie der Beter des Psalms. Menschen, denen schlimmes Leid widerfahren ist. Menschen, die ausgelacht, ausgestoßen, gemobbt werden. Menschen, die einen schlimmen Fehler gemacht haben und nicht wissen, wie sie ihn wieder gut machen sollen. Die für sich keine Handlungsmöglichkeiten mehr sehen. Menschen, die einen geliebten Menschen verloren haben. Menschen, die Gewalt und Zerstörung ausgesetzt sind. Menschen, die vergeblich um Hilfe geschrien haben und die sich von Gott verlassen fühlen.

Manche von uns haben selbst schon Schlimmes erlebt oder kennen Menschen, denen es ähnlich ergangen ist. Am Kreuz durchleidet und teilt Jesus selbst ihren Schmerz und ihre Verzweiflung. Und in ihm und durch ihn Gott selbst. Das ist vielleicht das zentrale Paradox des Glaubens: Gott selbst erlebt, was das heißt: „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“

Dieser Schrei ist nicht die einzige Anspielung auf Ps 22. „Sie verteilen meine Kleider unter sich und werfen das Los über mein Gewand.“ Genau das wird von Jesus erzählt. „Alle, die mich sehen, lachen nur über mich. Sie spitzen die Lippen und schütteln den Kopf. ‚Soll er doch seine Last auf den Herrn abwälzen. Der soll ihn auch retten.‘“ „Die vorübergingen, lästerten Jesus und schüttelten ihre Köpfe und sprachen: Hilf dir nun selber! Der Christus, der König von Israel, er steige nun vom Kreuz, damit wir sehen und glauben.“ Kein Erbarmen, kein Mitgefühl zeigen die Mitmenschen. „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!“ Von allen verlassen, ausgestoßen, allein.

„Ich fühle mich wie ausgeschüttetes Wasser. Ich habe keine Gewalt mehr über meine Glieder.

Trocken wie eine Tonscherbe ist meine Kehle und die Zunge klebt mir am Gaumen.“ Zerbrochen ist der Mensch. Er steht vor den Scherben seiner Existenz. Mit ihm ist nichts mehr anzufangen. Gescheitert und am Ende. Jesu Hände und Füße sind als Kreuz genagelt. Er hat keine Gewalt mehr über seine Glieder, kann sich nicht rühren. Keine Handlungsmöglichkeiten, keine Chance mehr, irgendetwas an der Situation zu ändern. Ausgedörrt und durstig in der Hitze des Tages. Seine Kahle hat er sich wund geschrien. Schließlich: „So legst du mich in den Staub zu den Toten.“ Jesus stirbt am Kreuz und wird begraben.

Als Christ glaube ich, dass in Jesus Christus Gott Mensch geworden ist. Dass er all das, was Jesus angetan wird, selbst erleidet. Dass Gott in allem Leid und aller Verzweiflung von Menschen selbst gegenwärtig ist.

Aber Gott lässt es nicht bei seiner Gegenwart in Leid und Tod bewenden. Er überwindet das Leid und den Tod. Er hat Christus aus dem Tod auferweckt. Das feiern wir an Ostern. Dabei wird allerdings das, was geschehen ist nicht einfach ausgelöscht. Sondern Gott nimmt auch in der Überwindung von Leid und Tod die Brüche unseres Lebens ernst. Er bewahrt unser ganzes Leben nicht nur die Sonnenseiten.

Aus Japan stammt die Kunst des Kintsugi. Tongefäße, die zerbrochen sind, werden dabei nicht weggeworfen. Ihre Scherben werden wieder zusammengefügt. Dabei wird allerdings nicht versucht, die Sprünge unsichtbar zu machen. Im Gegenteil: Sie werden mit einem speziellen Lack geklebt, in den feinstes Pulvergold oder andere Edelmetalle eingestreut sind. Die Bruchlinien bleiben deutlich zu sehen und machen den Charakter und die Schönheit des neu zusammengefügten Gefäßes aus.

Ganz ähnlich bei der Auferstehung Jesu. Es wird erzählt, dass Menschen, denen der Auferstandene begegnet, ihn an seinen Wundmalen erkennen. Sie sind zu einem Teil von seiner Persönlichkeit geworden. Die Erfahrungen von Leid und die Brüche im Leben gehören zur Biografie dazu. Sie werden auch bei einem Neuanfang nicht einfach ausgelöscht. Gott würdigt die Brüche im Leben der Menschen. Die Persönlichkeit von Menschen, die Scheitern und Leid überstanden haben, hat eine neue Dimension gewonnen. Beziehungen, die Verletzungen integrieren können, sind tiefer als zuvor. Die Trauer um Menschen, die verstorben sind, gehört zum Leben der Hinterbliebenen dazu. Sie ist Ausdruck der Wertschätzung für die Verstorbenen. Ein Leben, das mehr ist als Überleben, ist auch nach den schweren Erfahrungen möglich – nicht trotz der Brüche, sondern mit – und manchmal sogar wegen – ihnen.

Die Überwindung von Leid und Verzweiflung drückt sich auch in Ps 22 aus. Der Beter bleibt nicht bei der Klage stehen. Seine Bitte um Hilfe „Bleib nicht fern von mir!“ entspringt einem Vertrauen trotz der Verborgenheit Gottes im Moment des Schreis. Ein Vertrauen, das sich aus den Erfahrungen vorangehender Generationen speist: „Auf dich vertrauten schon unsere Vorfahren. Auf dich haben sie sich verlassen und wurden nicht enttäuscht.“ Und dann schlägt der Psalm – wie nahezu alle Klagepsalmen der Bibel – in einen Lobpreis um. Offenbar blickt der Psalmbeter jetzt auf die erfahrene Rettung zurück: „Im Kreis der Gemeinde will ich dich loben. ‚Lobt ihn, die ihr Ehrfurcht habt vor dem Herrn! Denn er hat die Augen vor dem Elend nicht verschlossen und sich nicht gescheut, dem Armen zu helfen. Und dem Volk, das noch geboren wird, wird man über seine Gerechtigkeit sagen: Er hat es getan!‘“

Im Johannesevangelium klingt dieser Lobpreis schon am Kreuz an. Dort lauten Jesus letzte Wort: „Es ist vollbracht.“ An Ostern findet diese Überzeugung ihre Erfüllung. Und sie setzt sich im Leben der Menschen bis heute und in die Ewigkeit hinein fort. Das Leben jedes einzelnen Menschen mit all seinen Brüchen bleibt bei Gott bewahrt und wird von ihm zu einem sinnerfüllten Ganzen zusammengefügt.

Amen.

A. Glitsch Hünnefeld