„Macht euch die Erde untertan!“?

Mittwochsandacht_online

Nebenan im Evangelischen Gemeindehaus ist wieder eine Ausstellung zu sehen. Gezeigt werden diesmal Werke aus der „Galerie mit Nebenwirkung“ in Konstanz. Dabei handelt es sich um ein Inklusionsprojekt des Diakonischen Werks im Evangelischen Kirchenbezirk Konstanz. Dort kommen Menschen mit und ohne psychische Beeinträchtigungen zusammen, um gemeinsam Kunst zu erschaffen. Wöchentlich arbeiten sie unter Anleitung einer Kunsttherapeutin an ihren Werken. Regelmäßig stellen sie in der Raumschaft aus – aktuell hier in Gaienhofen.

„Galerie mit Nebenwirkung“ ist ein hintersinniger Name. Es geht um mehr, als dass Werke von Künstler*innen einer Öffentlichkeit gezeigt und zum Verkauf angeboten werden. Das auch. Aber dazu kommt die Nebenwirkung. Zunächst einmal für die Kunstschaffenden in der Gruppe. Sie kommen miteinander in einen Austausch. Einige Werke sind Gemeinschaftsarbeiten, die sich aus vielen Einzelkunstwerken zusammensetzen. Die Gruppe ist wichtiger als der oder die Einzelne. So finden sich auch bei den Einzelwerken in der Ausstellung im Gemeindehaus keine Hinweise auf die Künstler*innen, die sie geschaffen haben. Mitglieder geben an, dass für sie die Unterscheidung in „psychisch gesund“ und „psychisch krank“ keinen Sinn mehr ergibt. Gemeinsam entdecken sie ihre Talente, entfalten ihre Kreativität und schaffen Kunst. Und auch für die Gäste der Ausstellungen hat die Galerie – mindestens – eine Nebenwirkung: Sie werden vielleicht in manchem Vorurteil gegenüber Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung verunsichert. Und das ist gut so.

Kunst hat oft die Nebenwirkung, die Weltsicht der Betrachtenden zu irritieren und sie ins Nachdenken zu bringen. So geht es mir mit dem Bild, das ich für diese Andacht ausgesucht habe. Auf den ersten Blick wirkt es ganz idyllisch: Blaues Meer. Blauer Himmel. Nur ein paar Wölkchen. Gischtgekräuselte Wellen. Beim näheren Hinsehen stellt sich dann aber die Nebenwirkung ein: Die Wolken sind grünlich – giftgrünlich? Das Wasser wird zum Horizont hin bedrohlich schwarz – oder ist es bedroht? Über dem ganzen Bild liegt ein merkwürdiger, eher unnatürlicher Glanz. Das liegt am Material, aus dem es gearbeitet ist: Plastiktüten auf Karton. Der Titel des Bildes ist „Plastikmeer“.

Auch dieser Titel ist hintersinnig. Durch die verwendete Technik werden Wolken, Wellen und besonders die Gischtkronen plastisch, rollen auf mich als Betrachter zu. Gleichzeitig ist Plastik eine akute Bedrohung für die Weltmeere. In den Ozeanen haben sich Inseln aus Plastikmüll gebildet. Die größte von ihnen im Pazifik hat mittlerweile eine größere Ausdehnung als so mancher Staat. Mikroplastik gelangt in die Mägen von Meerestieren. Manche verenden qualvoll daran. Andere landen in den Mägen von Menschen – und das Mikroplastik mit ihnen. Dass für die Herstellung von Plastik Erdöl gebraucht wird, kommt noch dazu. Die Erdölvorkommen sind erstens endlich und zweitens kommt es beim Transport von Öl über die Weltmeere immer wieder zu Umweltkatastrophen.

Der gedankenlose Umgang mit Plastik ist nur ein Beispiel von vielen dafür, wie der Mensch die Natur bedroht und zerstört. Einen Teil Verantwortung dafür trägt auch die Kirche. Im ersten Schöpfungsbericht in der Bibel erhält der Mensch den Auftrag: „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht.“ (Gen 1,28) Jahrhunderte lang wurde dieser Vers so verstanden, dass der Mensch als Krone der Schöpfung mit der Natur tun dürfe, was er will. Sie sei lediglich Material zur Befriedigung seiner Bedürfnisse. Demgegenüber ist der Schöpfungsauftrag aus dem zweiten – älteren – Schöpfungsbericht mehr oder weniger in Vergessenheit geraten. „Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte.“ (Gen 2,15)

Aber auch die genannte Auslegung des ersten Auftrags ist eine verhängnisvolle Fehlinterpretation. Richtig verstanden sind mindestens fünf Punkte zu berücksichtigen, die die mutwillige Ausbeutung und Zerstörung der Schöpfung ausschließen:

  1. Der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung. Ihren Abschluss findet die Schöpfung mit dem siebten Tag, an dem Gott von seinen Werken ruhte. Ruhe nicht Rastlosigkeit ist die Krone der Schöpfung.
  2. Der Mensch erhält im ersten Schöpfungsbericht zwar den Tieren gegenüber den Vorzug. Aber er teilt sich den Lebensraum mit ihnen. In der Konkurrenz um Nahrung wird beiden Seiten je ein eigener Bereich zugewiesen. Nebenbei bemerkt: Fleischgenuss wird den Menschen erst deutlich später zugestanden: Nach der Sintflut aus einer Art Resignation heraus, als Gott gemerkt hat, dass das Experiment Mensch jede Menge unangenehme Nebenwirkungen hat – und sich das auch nach der Flut nicht ändern wird.
  3. Die Schöpfungsberichte gehören zur Literatur des Alten Orients. „Niedertreten“ – die wörtliche Übersetzung des Wortes für „herrschen“ – meinte nicht, auf den eigenen Untertanen herumzutrampeln, sondern die Feinde niederzutreten, die die Schutzbefohlenen bedrohten.
  4. Der Herrschaftsauftrag des Menschen ist eine Konsequenz dessen, dass er nach dem Bild Gottes geschaffen ist. Als Repräsentant Gottes hat er sich in seinem Beherrschen der Schöpfung an der Herrschaftsweise Gottes zu orientieren. Dessen liebevoller und bewahrender Umgang mit seinen Geschöpfen ist für den Menschen der Maßstab für seinen Herrschaftsauftrag.
  5. Auch als Bild Gottes ist und bleibt der Mensch Geschöpf und damit der Teil der Schöpfung. Er steht nicht über der Schöpfung, sondern gemeinsam mit allen anderen Geschöpfen steht er vor Gott. Demut, die die natürlichen Grenzen respektiert, ist also nicht nur aus reinem Selbsterhaltungstrieb geboten, sondern entspringt der Einsicht des Menschen in sein Wesen.

Diese grundlegende Haltung kann – nicht nur, aber besonders – im Glauben eingeübt werden. Recht verstanden dienen beide Schöpfungsaufträge dem Leben und wollen von den Menschen mit Leben gefüllt werden. In der Gemeinschaft – der Menschen und aller Geschöpfe – können wir das lernen. Impulse dazu kann uns die Kunst als eine willkommene Nebenwirkung geben. Auch die Kunst ist ein Geschenk Gottes. Nehmen wir es an!

Arnold Glitsch-Hünnefeld