„Looking for a blue moon“

Mittwochsandacht_online

In diesen Wochen der Passionszeit wird im Gemeindehaus der evangelischen Kirchengemeinde auf der Höri eine kleine, aber sehr besondere Ausstellung gezeigt. „Bilder ohne Augen-Licht“ heißt sie. Es handelt sich um Bilder der Künstlerin Gabriele Bueb aus Hemmenhofen, die sie nach ihrer Erblindung vor drei Jahren gemalt hat.

Gabriele Bueb, Jahrgang 1933, hegte von Kind an eine Leidenschaft für Kunst und Literatur. Später kam noch ein Interesse an Theologie dazu und so studierte sie Deutsch, katholische Religion, Französisch und Kunstgeschichte. Nach ihrem Zuzug auf die Höri arbeitete sie als Lehrerin an der Hauptschule in Öhningen und später am Gymnasium in Radolfzell, wo sie mit Schülerinnen und Schülern einige kreative Projekte (unter anderem eine Theatergruppe) verwirklichte. Im Ruhestand verlagerte Bueb ihren Schwerpunkt wieder auf die Malerei.

Für einen Menschen wie sie, zu deren Identität es gehört, sich visuell auszudrücken, war die Diagnose ihrer Augenkrankheit in besonderer Weise eine Katastrophe. Als sie 2019 vollständig erblindete, suchte sie dringend nach Möglichkeiten, ein „Trotzdem-Projekt“ aufzubauen, um weiterhin ihre Vorstellungen in Bildern auf Papier zu bringen, schreibt sie. Sie fand di Möglichkeit, mit Schnüren Formen zu legen und zu fixieren, die sie dann mit Farben ausgestalten kann. Dazu erhält sie Unterstützung von ihrer Assistentin, die ihr die Farben anreicht, die sie selbst dann mit Pinsel oder Fingern aufträgt. Einige Ergebnisse dieses „Trotzdem-Projekts“ sind im Gemeindehaus zu sehen und sollen auch anderen Erblindeten Mut machen, sich Gabriele Buebs Projekt anzuschließen.

Mich hat die Geschichte von Gabriele Bueb an eine Erzählung aus dem Neuen Testament erinnert. Sie steht im Markusevangelium zwischen der dritten Leidensankündigung Jesu und seinem Einzug nach Jerusalem, passt also genau in diese Wochen vor dem Palmsonntag, der Karwoche und Ostern. Erzählt wird von dem Blinden Bartimäus, der am Weg bei Jericho sitzt und bettelt. Als er mitbekommt, dass Jesus vorbeikommt, fängt er an zu rufen: „Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ Die Umstehenden versuchen, ihn zum Schweigen zu bringen. Er soll Jesus nicht belästigen. Aber er schreit nur noch lauter. Jesus spricht ihn an und fragt ihn, was er für ihn tun soll. „Meister, dass ich sehend werde.“ antwortet Bartimäus. Jesus schenkt ihm das Augenlicht und Bartimäus folgt ihm nach.

Auf den ersten Blick scheint die Geschichte der von Gabriele Bueb entgegengesetzt zu sein. Bartimäus ist erst blind und wird dann sehend – nicht umgekehrt. Auf den zweiten Blick wird aber deutlich, dass der Blinde schon vor seiner Heilung mehr sieht als die Umstehenden, die ihn zum Schweigen bringen wollen. „Du Sohn Davids“ spricht er Jesus an. Er erkennt in ihm den verheißenen Messias, den Nachfahren Davids, der Frieden, Gerechtigkeit und Heil bringen wird. Er erkennt, dass Jesus kein VIP ist, den man nicht belästigen darf, sondern nahbar. Dass Jesus Hilfe bringen kann, wo dies ausgeschlossen scheint – trotzdem.

Und er erkennt zugleich, dass er dessen bedarf, noch mehr zu sehen. Sehend werden ist ein Prozess, der nie abgeschlossen ist. Die Möglichkeiten sehen zu lernen, die Gott für uns Menschen und die Welt bereit hält, damit ist man nie fertig. Bartimäus hat das begriffen. Und Gabriele Bueb lebt es vor, ihrem verlorenen Augenlicht zum Trotz. Und so wie Bartimäus sich den Mund nicht von den Umstehenden verbieten lässt, lässt sie sich das Malen nicht durch ihre Krankheit verbieten.

In ihren Bildern hat sie begonnen mit den Farben zu spielen. Sie bindet sich nicht mehr an die Farben, die die Dinge in der Natur haben. Nicht, dass sie diese nicht kennen würde. Fast ein Leben lang hat sie sie gesehen. Sie weiß, dass Gras grün und der See blau ist. Aber sie nimmt sich bewusst die Freiheit, den Dingen neue Farben zu geben. So ergibt sich ein Überraschungsmoment, das Aufmerksamkeit weckt. Die Dinge erscheinen in einem neuen Licht. Es gibt nicht nur die eine Möglichkeit, sie wahrzunehmen. Die Wirklichkeit ist mehrdimensional. Der nüchterne Realismus greift zu kurz.

Ein Beispiel für das Spiel mit den Farben ist das Ausstellungsplakat mit dem goldenen Schwan. Wahrhaft königlich erscheint er auf dem roten Teppich mit der blauen Krone. Ein anderes Beispiel ist „die Schöne“, die den Blick unwillkürlich auf sich zieht.

Ich habe mir für diese Andacht das Bild „Blue Moon“ ausgesucht. Eine Explosion von Farben. Der Mond ist blau und umgeben von einer pinken Aura. Der Himmel ist gelb, scheinbar sonnendurchflutet. Manchmal zeigt sich der Mond sogar mitten an einem sonnigen Tag am Himmel. Ich freue mich dann immer darüber. Zwei Objekte nähern sich dem Mond auf dem Bild. Eins (das größere) sieht aus, als hätte es ein Auge und eine Nase: Menschen, die sich dem „blue moon“ annähern? Die Künstlerin und ihre Assistentin? Sie werden Teil des Farbspiels, der Überschreitung der Grenzen des Realismus.

„Once in a blue moon“ ist ein Ausdruck im Englischen. Er besagt, dass etwas sehr selten oder extrem unwahrscheinlich ist. Im Deutschen wären die Wendungen „Alle Jubeljahre einmal“ oder „am St. Nimmerleinstag“ vergleichbar. Im Kalender ist ein „blue moon“ ein zweiter Vollmond innerhalb eines Monats, was eben auch sehr selten vorkommt. Und noch viel seltener ist es, dass der Mond tatsächlich blau erscheint. Dann nämlich, wenn die Atmosphäre mit Staub- oder Aschepartikeln einer bestimmten Größe durchsetzt ist.

Dieses Bild und diese Redewendung haben auch Eingang in die Musik gefunden. „Blue Moon“ ist ein Jazz-Klassiker aus den 30er-Jahren, der seither unzählige Male gecovert wurde. Er besingt das Liebesglück eines Menschen, wovon der nicht mehr zu träumen gewagt hatte. In dem Stück der Traveling Wilburys, das wir zum Eingang gehört haben, singt einer von seiner Sehnsucht nach dem „blue moon“ der Liebe. Zweimal geht Bob Dylan mit seinem meckernd-spöttischen Tonfall dazwischen: „So many moons have come and gone. And none of them werde blue.“ Aber der Träumer lässt sich in seiner Sehnsucht nicht beirren. Und eines Tages hält ihn die Liebe in den Armen. Dem Meckerer zum Trotz.

Der Träumer behält Recht gegen den miesepetrigen Realisten. Bartimäus behält Recht gegen die, die ihm sagen: „Belästige Jesus nicht. Das hat doch eh‘ keinen Zweck!“ Gabriele Bueb behält Recht gegen ihr verlorenes Augenlicht. Es gilt für uns alle, immer wieder sehen zu lernen. Es gilt, am Trotzdem festzuhalten. Der Dunkelheit schöpferische Kraft entgegenzusetzen. Der Hoffnungslosigkeit Vertrauen auf Gott. Dem Karfreitag Ostern. Dem Tod das Leben aus der Kraft Gottes.

Arnold Glitsch-Hünnefeld

Links zu den Musikstücken:

New Blue Moon (Traveling Wilburys)

Blue Moon (Frank Sinatra)