Licht im Nebel

Mittwochsandacht_online

Gerlinde Stauß, Gaienhofen

In diesen Tagen sind in den Fenstern des evangelischen Gemeindehauses in Gaienhofen wieder Adventsfenster ausgestellt. Besonders schön zur Geltung kommen sie, wenn es draußen dunkel ist, und die Bilder aus Transparentpapier von hinten angestrahlt werden. Verschiedene Menschen aus der Gemeinde haben sie gestaltet und teilen auf Begleittexten ihre Gedanken dazu mit.

Ein Bild hebt sich von den anderen deutlich ab. Während die anderen bunt sind, ist es Weiß in Weiß gehalten. Das Bild lässt mich an Nebel denken. Der verschleiert die Sicht auf die Dinge. Lässt sie mehr erahnen als erkennen – wenn überhaupt. Der Blick geht nicht weit voraus, sondern erkennbar ist immer nur, was unmittelbar vor einem liegt. Der Nebel legt sich auf die Sicht und auf’s Gemüt.

Corona hat sich wie ein Nebel auf unsere Wirklichkeit gelegt. Wir wissen nicht, was noch kommen wird. Eine Verordnung löst die vorige ab – in so schneller Folge, dass wir mit der Umsetzung kaum nachkommen – in der Schule und in der Gesellschaft. Wir fahren auf kurze Sicht. Und wir ahnen mehr als wir wissen, dass uns das Ganze wohl noch eine ganze Zeit lang begleiten wird. Die Nerven liegen blank. Die Freude der Adventszeit, die Vorfreude auf Weihnachten ist getrübt.

Im Bild ist das Weihnachtsgeschehen aufgenommen und zugleich im Weiß in Weiß verborgen. „… das Wesentliche ist für unsere Augen unsichtbar.“ Dieses Motto aus dem „kleinen Prinzen“ von Antoine de Saint-Exupery hat die Künstlerin, Gerlinde Stauß, über die Gedanken zu ihrem Bild gesetzt. Der erste Teil dieses Satzes lautet: „Man sieht nur mit dem Herzen gut …“. Mit dem Herzen sehen heißt tiefer sehen. Darauf vertrauen, dass das, was im Nebel nur schemenhaft erahnt werden kann, wirklich ist. Der Botschaft des Advents auch in bedrückenden und unsicheren Zeiten vertrauen. Zu erkennen, dass die Symbole mehr zeigen, als die Augen sehen können.

Gerlinde Stauß schreibt zu den Symbolen auf ihrem Bild:

Sichtbare und unsichtbare Welt

X – das Unbekannte, die Variable, die Markierung, irgendwann …

lässt im Unklaren, was endet und wann alles begann

Das X umschließt das Weihnachtsgeschehen:

Gottes Sohn, ganz unten, wird von Hirten und Königen gesehen.

Im Kreuzungspunkt erscheint ein Davidsstern:

Der Gott des alten Bundes hat die Menschen noch gern.

Scheinbar aus den Höhen des Weltalls erscheint ein Komet:

Gott der Schöpfer und Erhalter der Welt.

Tiere und Pflanzen schwimmen, wachsen

auf einer gewellten, bewegten, instabilen Horizontalen.

Ihr und unser Leben leidet, messbar mit beunruhigenden Zahlen.

Zwischen den Menschen das Coronavirus,

schränkt ein Beziehung und Bewegungsradius.

Das X umschließt das Weihnachtsgeschehen. Unklar, wann alles begann. Gottes Geschichte mit den Menschen reicht weiter zurück. Der Gott des alten Bundes – symbolisiert durch den Davidsstern im Zentrum. Der alte Bund wird durch den, der an Weihnachten Mensch wird, nicht abgelöst. Gott ist treu. Er ist Schöpfer und Erhalter. Der, der schon immer war, kommt den Menschen aus der Zukunft entgegen. Der Komet weist den Weg. Das ist Grund zur Hoffnung auch in nebelverhangenen Zeiten.

Gerlinde Stauß fährt fort mit einer Umdichtung des Lieds „Stern über Bethlehem“:

Stern über Bethlehem,

zeig uns den Weg

öffne uns Herz und Sinn

hilf uns beim Neubeginn

Stern über Bethlehem

zeig uns den Weg.

 

Stern über Bethlehem

vieles ändert sich

fordert uns alle neu zum Umdenken

Gott will uns Hoffnung und Nähe schenken

Stern über Bethlehem

vieles ändert sich.

 

Stern über Bethlehem

führ uns zur Mitte hin

lass uns einander sehen

sorgfältig weitergehen

Stern über Bethlehem

führ uns zur Mitte hin.

In der Mitte des Bildes steht der Davidsstern. Er strukturiert das ganze Bild in sechs Segmente. Er steht für den Stamm Isais aus dem das Reis hervorgeht, das den Frieden bringt. Der Magén Davíd – wörtlich: der Schild Davids. „Du Herr bist mein Schutz und mein Schild.“

Der Stern, der missbraucht wurde als „Judenstern“ in der Nazizeit. Der Stern, der heute von Verschwörungstheoretikern wieder missbraucht wird. Wieder einmal werden die Juden für das Unheil der Welt verantwortlich gemacht. Von Menschen, in deren Hirn sich der Nebel einfach nicht will. Sie haben noch immer nicht begriffen, was Jesus Christus, das Reis aus dem Stamm Isai, selbst gesagt hat: „Das Heil kommt von den Juden“.

Dabei ist das Geschehen im Weiß erkennbar. „Gottes Sohn wird von Hirten und Königen gesehen.“ Sie sind nicht abgebildet. Gehören wir als Betrachtende des Bildes in ihren Kreis? In den Kreis, der einfache Knechte und hohe Würdenträger zusammenschließt? Der Milieus, Völker und Kulturen verbindet? Zusammengeschlossen in der Erkenntnis des Friedefürsten wird Frieden möglich – über alle Grenzen hinweg. Das Coronavirus trennt Menschen. Aber das Vertrauen darein, dass Gott die Grenzen überwunden hat und Mensch geworden ist, verbindet auch über social distancing hinweg. Menschen achten aufeinander. Ist es ein Zufall, dass die Menschen auf dem Bild auch Lichter sein könnten?

Vielleicht steht ja das Weiß des Bildes gar nicht für Nebel. Oder nicht nur. Weiß ist nicht die Abwesenheit von Farbe. Es ist die Summe aus allen Farben. Es ist das ultimative Licht. Es braucht vielleicht mehr Herz als Auge, um das zu erkennen. Das hellste Weiß im Bild haben der Davidsstern und seine Strahlen und die heilige Familie. Das Heil aus dem Stamm Davids, das Licht von Advent und Weihnachten scheint auch in unsere unsichere Zeit.

Arnold Glitsch-Hünnefeld