„Jetzt ist die Zeit“

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„Jetzt ist die Zeit“. Unter diesem Motto stand in diesem Jahr der Deutsche Evangelische Kirchentag, der in der zweiten Woche der Pfingstferien in Nürnberg stattfand. Viel wurde mit diesem Motto in den fünf Tagen gespielt. „Jetzt ist die Zeit für Kirchentag – nach vier Jahren Pause wegen der Pandemie endlich wieder in Präsenz! Jetzt ist die Zeit, dass 70.000 Menschen zu vielfältigen Begegnungen zusammenkommen, die Herausforderungen der Zeit bedenken und gemeinsam den Glauben feiern.“

Kirchentag, dazu gehören neben den Gottesdiensten Konzerte, Podiumsdiskussionen, Workshops, Kabarett und jede Menge mehr. Es gibt ein eigenes Zentrum Jugend. Aus über 2000 Veranstaltungen habe ich mir mein persönliches Programm zusammengestellt. Daneben gab es jede Menge spontane Eindrücke. Im Garten des Messegeländes wurden auf dem „roten Sofa“ stündlich Interviews geführt; zum Beispiel mit Carla Reemtsma von Fridays for Future. Und ich hatte viele Begegnungen und Gespräche mit Bekannten und mit Fremden. Es waren vollgepackte Tage und ich bin erfüllt zurückgekommen.

Wenn ich meine Highlights aufzählen wollte, wäre die Zeit der Andacht zu kurz dafür. Ein Highlight, das den Kirchentag als Ganzes geprägt hat, war für mich die Streitkultur. Es gab jede Menge kontroverse Themen – nicht zuletzt die Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine. Diese wurden auch engagiert und kontrovers diskutiert. Aber bei aller emotionalen Beteiligung wurde einander zugehört, niemand niedergemacht und auch ausgehalten, dass man sich in manchen Fragen nicht einigen konnte. Damit hat sich der Kirchentag wohltuend von vielen Grabenkämpfen in unserer Gesellschaft abgehoben. „Warum ist das so selten geworden?“ fragte Thomas de Maizière, der Präsident des Kirchentags beim Abschlussgottesdienst. Jetzt ist die Zeit, fair zu streiten.

Einem Thema, das viel mit der großen Gereiztheit in unserer Gesellschaft zu tun hat, wurde am Samstag ein ganzer Thementag gewidmet: Verschwörung. Unter dem Titel „Von QAnon bis zum Aluhut: Warum boomt schwarzweiß?“ befasste sich ein Podium damit, warum Verschwörungserzählungen für Menschen attraktiv sind. Es wurde davon berichtet, wie Angehörige keinen Zugang mehr zu Eltern oder Geschwistern finden, die einer Verschwörungserzählung anhängen. Für diese gibt es in der Regel nur noch Eingeweihte und – von den „Staatsmedien“ – Verblendete. Oftmals wird aus dieser Einteilung die Spaltung in Verbündete und Feinde. Emilia Fester, bis dieses Jahr jüngste Abgeordnete im Bundestag, berichtete, welchem Hass sie ausgesetzt ist, weil sie bestimmten Verschwörungserzählungen öffentlich widerspricht. So hilflos Angehörige einer solchen Entwicklung meist gegenüberstehen, sind sie oder Freund*innen oftmals die Einzigen, bei denen noch eine winzige Chance besteht, Gehör zu finden. Eine Frage, die manchmal Anhänger*innen einer Verschwörungserzählung ins Nachdenken bringt ist: „Was bräuchte es denn, um dich vom Gegenteil zu überzeugen?“ Jetzt ist die Zeit, Gesprächsfäden nicht abreißen zu lassen.

Auf einem Podium am Nachmittag ging es dann um die Frage, mit welchen Mitteln der öffentliche Diskurs beeinflusst wird, so dass die Gräben in der Gesellschaft immer tiefer werden. „Verschwörung, Fake News, Lobbyismus: Demokratie in Gefahr?“ war der Titel. Es gilt zu unterscheiden zwischen Missinformation und Desinformation. Auf stern.de fand sich die Meldung, der Gardasee habe 2023 ein Drittel weniger Wasser als im Vorjahr. Diese wurde von einigen Medienportalen ungeprüft übernommen. Richtig war, dass der Wasserpegel ein Drittel unter dem des Vorjahres lag. Auch das ist bedenklich, aber nicht ganz so dramatisch. Dieser Fehler ist ein Beispiel für Missinformation. Einige andere Medien griffen diesen Fehler auf und erklärten, er sei Teil einer Kampagne, um die Angst vor dem Klimawandel zu schüren, der in Wahrheit gar nicht so schlimm sei. Das wiederum ist gezielte Desinformation. In dieselbe Kerbe schlägt das sogenannte Framing. Was die Regierung tut, wird – beispielsweise von der BILD-Zeitung – mit abwertenden Schlagworten belegt. „Habecks Heiz Hammer“ ist ein Beispiel dafür. Diese Wortwahl setzt sich in den Köpfen fest und findet Eingang in die politischen Debatten. Die Vertretenden des Volkes werden wahlweise als inkompetent oder als böswillig hingestellt. Das untergräbt auf lange Sicht das Vertrauen in die Demokratie. Jetzt ist die Zeit, die Geister zu unterscheiden.

Verschwörungserzählungen gehen gerne mit Weltuntergangsszenarien einher. Aber sind Apokalypsen nicht gerade ein Spezialgebiet von Religion? Oder anders gefragt: Arbeitet Religion nicht schon aus Prinzip mit Verschwörungserzählungen? In Teilen trifft das leider zu. Über Epochen hinweg haben weite Teile der Kirche Ängste geschürt und die Gläubigen so auf Linie gehalten. Aber seither hat die große Mehrheit der Kirche gelernt. In einem aufgeklärten Christentum verbindet sich ein lebendiger Glaube mit einem wachen Verstand. Und das ist schon in der Bibel so angelegt. Von Jesus selbst ist in den Evangelien eine Apokalypse, also eine Endzeitvision überliefert. Darin sagt er allerdings einige bemerkenswerte Dinge. So warnt er zum Beispiel davor, falschen Propheten Glauben zu schenken, die behaupten: „Da ist der Christus!“ Wenn der Christus wiederkommen wird, so werden es alle selbst erkennen. Es ist falsch, das eigene Denken anderen zu überlassen. Und es ist falsch, den liebenden Gott der Bibel zu einem Despoten zu stilisieren, vor dem man sich ängstigen muss. Im Zentrum der biblischen Botschaft stehen Glaube, Liebe und Hoffnung. Hoffnung nicht erst auf die Endzeit, sondern Hoffnung für jede Zeit. Das greift das Motto des Kirchentags mit seinen zwei Erweiterungen „Hoffen“ und „Machen“ auf. Es gilt, nicht wie das Kaninchen vor der Schlange in Form der großen Krisen zu erstarren, sondern etwas zu tun, und mag es noch so wenig erscheinen. „Jetzt ist die Zeit. Hoffen. Machen.“

Arnold Glitsch-Hünnefeld