Jesus liebt dich?

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In Heidelberg stehen an einer der S-Bahn-Strecken zwei Graffiti, die mir zu denken geben. Das erste lautet: „Jesus liebt Dich!“ So weit, so bekannt. Den Spruch kenne ich von Tassen, T-Shirts oder eben Graffiti. 1000mal gelesen – 1000mal ignoriert. Meine Aufmerksamkeit erregt erst der zweite Spruch – von anderer Hand als eine Art Antwort darunter gesprayt: „Da muss er aber schön blöd sein!“

„Ups!“ denke ich mir mit einem Grinsen. „Da war aber jemand schlagfertig!“ Warum macht mir diese Antwort Spaß? Ist es die reine Freude am bissigen Humor? Oder ist da mehr? Ein Stück Schadenfreude dem unbekannten Sprayer des ersten Spruchs gegenüber? Wenn ich ehrlich bin, wohl auch das.

Was stört mich eigentlich an dem gesprayten „Jesus liebt dich“? Ich möchte doch von Gott geliebt werden – oder? Ja, das möchte ich, aber das ist eine Sache zwischen Gott und mir. Ich will nicht, dass irgendein Hans und Franz sich da einmischt. Was weiß der schon über die Beziehung zwischen mir und Gott? Ich unterstelle, dass der fromme Sprayer mir unterstellt, dass ich nicht selbst weiß, dass Jesus mich liebt, und er es mir jetzt mal mitteilen muss. In etwa: „Jesus liebt dich – du musst es nur noch begreifen“. Über diese Vermutung einer besserwisserischen Haltung hinaus fühle ich mich bedrängt: „Jesus liebt dich – jetzt nimm’s doch endlich mal an!“ Kurz gesagt: Ich empfinde den Spruch an der Wand als latent übergriffig. Eine Form von Mission, die mir den Glauben aufschwatzen will.

Vielleicht reagiere ich besonders allergisch, weil ich sogar als gläubiger Mensch gelegentlich erlebe, dass Menschen meinen, mir sagen zu müssen, wie glauben wirklich geht. „Ich wünsche dir, dass du Jesus kennenlernst.“ Solche und ähnliche Sprüche habe ich von Menschen gehört, die wussten, dass ich Pfarrer – bzw. früher Theologiestudent – war. Das nervt. Und ich stelle mir vor, dass es auch Menschen nervt, die nicht glauben und vielleicht ihre Gründe dafür haben.

Was mich wohl am meisten stört, ist die plakative Form des Spruchs als Graffito oder T-Shirt-Aufdruck. Die Botschaft verflacht, wenn sie so ziellos herumposaunt wird. Wenn sie ohne konkrete Adressaten allen gesagt wird, ob die es nun hören wollen oder nicht, dann wird sie nichtssagend. Und dafür ist sie zu wertvoll.

Paulus schreibt in seinem Brief an die Römer: „Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.“ (Röm 8,38f) Das ist eins der Bibelworte, die mir besonders wertvoll sind. Aber – das klingt doch ganz ähnlich, wie „Jesus liebt Dich“!? Offenbar liegen die Dinge doch nicht so einfach, wie mein Widerwille gegen den Spruch an der Wand mich glauben macht.

Ich zitiere den Vers aus dem Römerbrief gerne bei Bestattungen. Ist das nicht auch übergriffig? Der oder die Verstorbene kann sich nicht mehr dagegen wehren. Andererseits: Die Angehörigen haben sich für eine kirchliche Bestattung und damit für die christliche Verkündigung am Grab entschieden. Ich setze voraus, dass sie damit im Sinn des oder der Verstorbenen gehandelt haben. In der Regel bekomme ich im Trauergespräch auch ein Gefühl dafür, ob das stimmt. Und wenn ich den Eindruck bekäme, der oder die Verstorbene hätte keinen „Pfaffen“ an seinem Grab gewollt, würde ich das den Angehörigen sagen und eine andere Form der seelsorglichen Begleitung suchen. In einem seelsorglichen Gespräch jedenfalls kann die Zusage der Liebe Gottes hilfreich und notwendig sein.

Seelsorge geschieht meist unter vier Augen oder zumindest im ganz kleinen Kreis. Paulus allerdings schreibt seinen Brief nicht an eine Einzelperson, sondern an die ganze Gemeinde in Rom. Also doch nicht viel anders als das Jesus-Graffito? Nein: Paulus schreibt nicht an irgendwen, sondern an eine bestimmte Gruppe von Menschen. Er schreibt an die christliche Gemeinde in Rom, die in einer absoluten Minderheitensituation war. An Menschen, die gegen große Widerstände ihren Glauben an Christus lebten. Und Paulus schreibt nicht anonym, sondern als einer der ihren. Er vergewissert die Christ*innen in Rom und sich selbst der Liebe Christi: Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist.

Ich schaue mir noch mal das Antwortgraffito an: „Da muss er aber schön blöd sein!“ Auf wen bezieht es sich eigentlich? Meine erste Assoziation war: Auf den ersten Sprayer – den ich ja als nervigen Missionar identifiziert habe – oder meine, identifiziert zu haben. Den zu lieben wäre also schön blöd. Und mit einer gewissen Schadenfreude denke ich „Ja genau!“

Aber das ist natürlich Quatsch. Grammatikalisch ist die Sache ganz klar. Das Objekt des zweiten Spruchs ist durch den ersten Spruch bestimmt: Der „Dich“ bin ich – der Leser. Jesus muss also schön blöd sein, wenn er mich liebt. Will ich das so unterschreiben? So verstanden ist der Antwortspruch jedenfalls auch ganz schön übergriffig. Was fällt dem ein, darüber zu urteilen, ob es blöd ist, mich zu lieben? Ist das nicht erst recht eine Sache zwischen Gott und mir?

Manchmal bin ich allerdings versucht, dem zweiten Spruch Recht zu geben. Man muss ganz schön blöd sein, mich zu lieben. Wenn mir mal wieder nichts gelingen will. Wenn ich Menschen, die mir wichtig sind, enttäuscht habe. Wenn ich den Eindruck habe, den Anforderungen nicht gerecht zu werden. Oder wenn ich denke, dass ich ihnen nur zum Schein gerecht werde, und fürchte, im nächsten Moment als Blender enttarnt zu werden. Ich wage jetzt mal selbst eine übergriffige These: Ich vermute, ähnliche Ängste treiben die meisten von Euch hin und wieder um.

Gerade dann, wenn ich an mir selbst zweifle, tut mir die Zusage aus dem Römerbrief gut: Ich bin gewiss, dass nichts mich scheiden kann von der Liebe Gottes. Auch meine Fehler und Unzulänglichkeiten nicht. Vielleicht schön blöd von Gott. Aber ich bin ihm zutiefst dankbar dafür.

Arnold Glitsch-Hünnefeld