Heiliger Geist oder Zeitgeist?

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„Heiliger Geist oder Zeitgeist?“ Diesen Titel trug vor Urzeiten – als ich noch studiert habe – ein Gastvortrag an der Kirchlichen Hochschule in Bethel. Gerhard Ebeling, einer der ganz großen systematischen Theologen seiner Zeit hat ihn gehalten. Nach über 30 Jahren ist bei mir nicht viel mehr hängen geblieben als der Titel und Ebelings Fazit: „Kirche muss sich am Heiligen Geist orientieren und nicht am Zeitgeist.“

„Heiliger Geist oder Zeitgeist?“ Dieselbe Frage habe ich diese Woche meinem Religionsleistungskurs gestellt und mit dem Zusatz „Gegensatz oder Symbiose?“ versehen. Die Schülerinnen und Schüler kamen zu anderen Ergebnissen als Ebeling. „Der Heilige Geist und der Zeitgeist ergänzen einander im günstigen Fall. Allerdings entsprechen manche Erscheinungsformen des Zeitgeistes keineswegs dem Heiligen Geist“ war eine Antwort. Die zweite, auf die sich die Mehrheit des Kurses einigen konnte, lautete: „Wenn sich der Geist der Kirche nicht am Zeitgeist orientiert, hat die Kirche – und damit auch der Heilige Geist – keine Zukunft.“

Wer hat Recht? Der renommierte Theologieprofessor Anfang der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts oder Abiturientinnen und Abiturienten der Gegenwart? Um hier zu einer Entscheidung zu kommen, ist es sinnvoll, erst einmal die Begriffe zu klären. Ein Schüler meinte: „Der Zeitgeist ist der Konsens in einer Gesellschaft über Geisteshaltungen, Weltanschauungen, Lebenseinstellungen und ähnliches.“

Das hätte ich nicht besser formulieren können. Kleine Nebenbemerkung: Fraglich ist, ob es in einer Gesellschaft, die sich immer mehr in verschiedene Milieus ausdifferenziert (Stichwort „Postmoderne“), den Zeitgeist überhaupt noch gibt. Bestimmte Trends lassen sich allerdings durchaus noch identifizieren.

Die Füllung des Begriffs „Heiliger Geist“ war im Unterrichtsgespräch unschärfer: Ist das der Geist, der in der Kirche herrscht, oder eine Art „Wertefundament“ der Kirche? Für Gerhard Ebeling war die Begriffsklärung klar: Der Heilige Geist ist die Dritte Person der Trinität, der göttlichen Dreifaltigkeit. Er ist die gegenwärtige Form von Gottes Anwesenheit in der Welt.

Aus dieser Perspektive ist Ebelings Fazit folgerichtig. Die Kirche darf sich nicht an einer flüchtigen, menschlichen Zeiterscheinung orientieren, sondern allein Gott selbst kann der Maßstab für die Kirche sein.

Neben der logischen Konsequenz stand bei diesem Fazit sicher auch die historische Erfahrung im Hintergrund. Ebeling war in der Nazizeit Pfarrer in der Bekennenden Kirche. Deren Gründungsdokument, die Barmer Theologische Erklärung, stellt sich klar gegen den herrschenden Zeitgeist, der damals ein Ungeist war. „Wir verwerfen die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen überlassen“ heißt es in der dritten These der Barmer Erklärung. Wo der Zeitgeist dem Zeugnis des christlichen Glaubens widerspricht, muss die Kirche sich ihm entgegenstellen.

Auch ein Schüler aus dem Leistungskurs hat klar festgehalten: „Manche Erscheinungsformen des Zeitgeistes stehen im Gegensatz zum Heiligen Geist.“ In diesen Fällen darf die Kirche sich nicht an den Zeitgeist anbiedern. Wenn zum Beispiel der Zeitgeist einen rücksichtslosen Umgang mit Mitschülerinnen oder Kollegen begünstigt, dann sind Christen gefragt, dem zu widerstehen. Wenn dagegen Botschaft und Haltung bzw. Handeln der Kirche auseinanderfallen, dann verliert sie ihre Glaubwürdigkeit.

Die andere Einsicht der Schülerinnen und Schüler gilt aber auch: Wenn es der Kirche nicht gelingt, die Menschen ihrer Zeit zu erreichen, verliert sie ihre Bedeutung. Dabei sind ein Blick und ein Gespür für den Zeitgeist genauso vonnöten wie die Fähigkeit zur Unterscheidung der Geister. Wo ist der Zeitgeist ein Ungeist, dem es zu widerstehen gilt? Und wo vertragen sich Zeitgeist und Heiliger Geist und können einander beflügeln?

Der dafür notwendige aufmerksame und zugleich kritische Blick ist selbst ein Geschenk des Heiligen Geistes. Denn dieser ist ein Geist der Verständigung. Das zeigt die Pfingstgeschichte ganz deutlich. Beseelt durch den Heiligen Geist können Menschen aus ganz unterschiedlichen Völkern einander plötzlich verstehen. Pfingsten ist ein Fest der Sprachfähigkeit. Der Heilige Geist kann dazu beitragen, Sprachbarrieren zwischen verschiedenen Milieus zu überwinden und zeitlose Wahrheiten in zeitgemäßer Form zur Sprache zu bringen. Möge es uns gelingen, die Botschaft des Evangeliums in Worten, Formen und Verhaltensweisen auszudrücken, die die Menschen unserer Zeit verstehen und die überzeugend und glaubwürdig sind.

Arnold Glitsch-Hünnefeld