Gottes Augapfel

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I. Friedrich / pixelio.de

Am vergangenen Samstag hat die palästinensische Terrororganisation Hamas Israel angegriffen. 50 Jahre und einen Tag nach dem Jom-Kippur-Krieg 1973. Wie damals erfolgte der Angriff an einem hohen jüdischen Feiertag; diesmal Simchat Tora. Was genau die Hamas mit dem militärisch sinnlosen Angriff bezweckt, ist unklar. Hinter all der Gewalt steht, dass die Hamas das Existenzrecht Israels nicht anerkennt – in dieser Haltung unterstützt von Syrien und dem Iran. Ginge es nach ihnen, würde Israel von der Landkarte vertilgt.

Die Nachrichten und Bilder vom Angriff der Hamas sind schwer zu ertragen. Gezielt werden Zivilisten ermordet oder als Geiseln genommen. Die Grausamkeit und Brutalität der Milizen sind selbst im Vergleich zu anderen Kriegen verstörend. Und wahrscheinlich ist genau das gewollt: Die Hamas will Schrecken verbreiten – das Grundmotiv von Terror. Die Menschen in Israel sollen in ihrem Innersten erschüttert werden.

Und diejenigen, die sich mit Israel verbunden fühlen, mit ihnen. Egal, wie man zur Politik der Regierung Israels stehen mag: Dieser Terror ist durch nichts zu rechtfertigen. Wir sind aus zwei Gründen in besonderer Weise mit Israel verbunden: Als Deutsche und als Christen.

Als Deutsche: Die Entscheidung der Vereinten Nationen für einen jüdischen Staat in Palästina war maßgeblich durch die Shoah, die Ermordung von 6 Millionen Juden durch die Nazis, beeinflusst. Nie wieder sollten Juden schutzlos einer solchen Vernichtung ausgesetzt sein können. Eine Konsequenz aus den Verbrechen, die in Deutschland und von Deutschland aus an den Juden begangen wurden, ist unsere besondere Verantwortung für Israel. Das Existenzrecht Israels ist nicht verhandelbar.

Als Christen: Ohne das Judentum gäbe es uns Christen nicht. Jesus war Jude und hat sich zeitlebens auch als Jude verstanden. Wir teilen mit den Juden den ersten Teil unserer Bibel und den Glauben an den Gott Israels. Christen verstehen sich als jüngere Adoptivgeschwister der Juden, dem ursprünglichen Volk Gottes. Das erste Recht, Volk und Kinder Gottes zu sein, bleibt bei den Juden. Das hat die christliche Theologie – wenn auch reichlich spät – inzwischen begriffen und verinnerlicht.

Einer, der das gegen den Geist seiner Zeit begriffen und eingefordert hat, war Dietrich Bonhoeffer – evangelischer Pfarrer während der Naziherrschaft. Angesichts der Gewalt gegen die Juden vor, während und nach der sogenannten „Reichskristallnacht“ forderte er: „Nur wer für Juden schreit, darf gregorianisch singen“. In seine Studienbibel hat Bonhoeffer nur an ganz wenigen Stellen etwas hineingeschrieben.

Eine dieser wenigen Stellen, die er markiert hat, ist Sach 2,12. Dort heißt es: „Wer euch antastet [gemeint sind die Juden], der tastet seinen Augapfel an“. Wer Juden angreift, fügt sich selbst an einer seiner kostbarsten und empfindlichsten Stellen Schaden zu. Gott steht zu seinem Volk und hat ein wachsames Auge auf Israel. In einigen alten Handschriften heißt die Stelle: „Wer euch antastet, der tastet meinen Augapfel an.“ Welche Version die ursprüngliche ist, lässt sich nicht mehr herausfinden. Aber so oder so: Gott identifiziert sich untrennbar mit seinem Volk.

Das Bild von Gottes Augapfel findet sich noch an weiteren Stellen der Bibel. Im Deuteronomium, dem 5. Buch Mose, heißt es: „Der Herr behütete sein Volk wie seinen Augapfel.“ (Dtn 32,10) Dort wird beschrieben, wie Gott Israel als Jüngling annahm und behütete. Es wird die wechselvolle Geschichte Israels bis zur babylonischen Gefangenschaft nachgezeichnet. Den Menschen im Exil wird Rückkehr verheißen und denen, die ihnen Gewalt antun, Vergeltung angedroht. Allerdings heißt es an der Stelle: „Die Rache ist mein, ich will vergelten.“ (Dtn 32,35) Paulus versteht das im Römerbrief so, dass Vergeltung allein in Gottes Hand liegt und nicht Sache der Menschen ist. (Röm 12,19)

In der Reaktion Israels auf den Angriff der Hamas mischen sich Verteidigung und Vergeltung. Ehrlich gesagt, kann ich den Wunsch nach Vergeltung gut nachvollziehen. Schon die – für mich doch fernen – Bilder wecken in mir eine Mischung aus Hilflosigkeit und Wut. Und es steht mir auch nicht an, den moralischen Zeigefinger zu erheben. Als Deutschem nicht. Und in dieser Situation, in der Israel in seinen Grundfesten erschüttert ist, schon zweimal nicht.

Trotzdem habe ich auch Mitgefühl mit den Palästinenser*innen, die jetzt der Reaktion der Israelis ausgesetzt sind. Ihr Leid wird von der Hamas billigend in Kauf genommen. Mehr noch: Die Hamas kalkuliert es gezielt mit ein, um den Hass gegen Israel weiter zu schüren. Und das Perfide ist, dass diese Strategie funktioniert. Frieden wird es dagegen nur dann jemals geben, wenn Versöhnung gelingt. Wenn die arabische Welt als Ganze das Existenzrecht Israels anerkennt. Und wenn alle Menschen im Einflussgebiet Israels unter menschenwürdigen Bedingungen leben. Aber das scheint so fern wie noch selten.

Unserer Verantwortung für Israel zum Trotz können wir hier nicht viel tun. Aber wir können zumindest nicht dulden, dass auf unserem Boden die Gräuel der Hamas gefeiert werden. Und wir können an der Verheißung Gottes festhalten. Im selben Prophetenbuch, in dem Bonhoeffer die Stelle mit dem Augapfel markiert hat, finden sich Worte, die auch den christlichen Glauben bis heute prägten: „Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin. Denn ich will die Wagen vernichten in Ephraim und die Rosse in Jerusalem, und der Kriegsbogen soll zerbrochen werden. Denn er wird Frieden gebieten den Völkern.“ (Sach 9,9f) Das ist Verheißung und Sehnsucht zugleich. Eine Sehnsucht, die die Menschheit bis heute umtreibt.

Und so will ich ein Gebet Israels an den Schluss meiner Gedanken stellen. Ein Gebet, dass Hoffnung und Sehnsucht vereint. Worte aus dem 147sten Psalm:

Der Herr baut Jerusalem wieder auf.

Er bringt die Israeliten wieder heim,

die in fremde Länder zerstreut sind.

Er heilt die gebrochenen Herzen

und verbindet offene Wunden.

Groß ist unser Herr, gewaltig ist seine Macht.

Seine Weisheit ist unermesslich.

Der Herr richtet die Unterdrückten auf,

doch die Frevler stößt er zu Boden.

Die Stärke der Schlachtrosse beeindruckt ihn nicht.

Die Muskelkraft der Kämpfer gefällt ihm nicht.

Was dem Herrn gefällt, sind Menschen,

die ihm mit Ehrfurcht begegnen,

die auf seine Güte hoffen.

Jerusalem, preise den Herrn!

Stadt Zion, lobe deinen Gott!

Frieden bringt er über dein Gebiet,

mit bestem Weizen macht er dich satt.

Israel schenkte er seine Gesetze und Gebote.

Arnold Glitsch-Hünnefeld