Ganz Mensch für Menschen
Mittwochsandacht_online
Heute möchte ich die Arbeit von Menschen würdigen, die sich ganz in den Dienst für andere Menschen stellen: Alten- und Krankenpflegekräfte, Ärzt*innen und Rettungssanitäter*innen. Zu Beginn der Coronazeit bekamen sie viel Applaus. Aber ihr Einsatz kann gar nicht genug wertgeschätzt werden und aktuell steht mir ihre Arbeit besonders eindrücklich vor Augen.
Seit einem guten Jahr lebt meine hochbetagte Mutter hier im Seeheim auf der Höri. Dort wird sie liebevoll versorgt. Vor fünf Wochen ist sie mit dem Rollator gestürzt und hat sich den Unterschenkel gebrochen. Der Bruch wurde operiert in der Hoffnung, dass sie noch einmal auf die Beine kommen würde. Dann aber traten Komplikationen auf. Es zeichnete sich ab, dass das Bein nicht mehr verheilen würde. Es haben sich abgestorbene Stellen am Fuß gebildet. Meine Mutter vergisst immer wieder, dass sie gestürzt ist, und versteht nicht mehr richtig, was mit ihr und um sie herum geschieht.
Als ihre Hausärztin am vergangenen Donnerstag den Fuß begutachtet hat, war sie alarmiert und ordnete an, dass meine Mutter umgehend noch einmal zur Kontrolle in die Unfallchirurgie nach Singen muss. Von diesem Abend möchte ich erzählen:
Die vielen Krankentransporte der letzten Zeit waren meiner Mutter ein Graus. Deshalb frage ich, ob ich sie im Krankenwagen begleiten darf. Die beiden freundlichen Sanitäterinnen stimmen zu. Sie kennen die Handgriffe, verfrachten meine Mutter zunächst aus dem Bett auf die Trage und dann ins Auto. Ich bekomme einen Eindruck von ruhiger Kompetenz. Ganz lässt sich nicht vermeiden, dass jede Bodenunebenheit und jedes Ruckeln meiner Mutter Schmerzen bereitet. Aber die Fahrerin fährt so sanft wie möglich.
Ankunft in der Notaufnahme im Krankenhaus Singen. Eigentlich dürfen Angehörige hier nicht mit hinein. Ich schildere den Zustand meiner Mutter und die leitende Pflegerin macht ohne viel Aufhebens eine Ausnahme. Es stellt sich die Frage, wo das Bett mit meiner Mutter hin soll. Aktuell ist kein Behandlungszimmer frei. Also erst mal auf den Gang. Dort sind schon mehrere Patient*innen. Pflegekräfte, Ärzt*innen und Sanitäter*innen laufen im Slalom um die Betten und Rollstühle herum. Es beginnt eine lange Zeit des Wartens. Nicht weil Ärzt*innen und Pflegekräfte trödeln, sondern weil einfach zu viel zu tun ist. Und weil sie sich trotz aller Hektik die nötige Zeit für die Menschen nehmen, die ihre Hilfe brauchen.
In regelmäßigen Abständen werden neue Patient*innen in die Notaufnahme gebracht. Die Sanitäter*innen übergeben sie und die nötigen Informationen an die Pflegekräfte. Oft kommt es zu Verhandlungen: „Ein Unfallchirurg müsste darauf schauen“ teilt der Sanitäter mit. Derzeit ist aber keiner frei. Vorschlag der Pflegerin: „Wir schicke eine Gefäßchirurgin.“ „Das passt aber nicht.“ Schließlich wird eine Lösung gefunden: Eine Unfallchirurgin tritt gerade ihren Dienst an. Sanitäter und Pflegerin klatschen sich ab, wünschen einander eine ruhige Nacht und der Krankentransport macht sich wieder auf den Weg – wahrscheinlich zum nächsten Einsatz. Auch wenn manchmal um Lösungen gerungen werden muss, herrscht ein unausgesprochenes Einvernehmen zwischen den Menschen, die hier arbeiten. Sie wissen darum, was die jeweils anderen zu leisten haben, sind einander verbunden in der fordernden Arbeit für die Menschen und begegnen sich mit einem – im Umgangston manchmal burschikosen – Respekt.
Anamnesegespräche werden in dem überfüllten Flur geführt. Manche Patienten sind mit Anliegen da, bei denen ich als Laie mich frage, ob das nicht auch in der regulären Sprechstunde der Hausarztpraxis hätte geklärt werden können. Der Arzt, der das Gespräch führt, bleibt geduldig, hört zu, nimmt den Mann in seiner Notsituation ernst. Ein anderer Patient, der nicht versteht, warum er warten muss, ruft lautstark und immer wieder. Ich merke, wie meine Geduld nachlässt. Aber die Schwester, die ihn schließlich holt und auf die Station bringt, bleibt freundlich und zugewandt. Die meisten Patienten sind mit der Situation überfordert. Schmerzen, Unsicherheit und Ungeduld mischen sich. Die Pflegekräfte nehmen ihnen das nicht krumm. Ich wäre überfordert, wenn ich an ihrer Stelle wäre. Mein Respekt vor Ihnen wächst nahezu minütlich.
Ich versuche, meiner Mutter beizustehen und sonst so wenig wie möglich im Weg zu sein. Natürlich bin ich es trotzdem. Aber niemand lässt mich das spüren. Stattdessen: „Brauchen Sie etwas? Möchte Ihre Mutter vielleicht etwas trinken?“ Als ich frage, ob ich telefonieren kann, um meine Schwester zu informieren, gibt mir eine Pflegerin ihr Telefon. Wenig später bringt sie mir unaufgefordert einen WLAN-Code, so dass ich auch meine Frau und die Familie über den Messenger auf dem Laufen halten kann. Auch die Chirurgin, die schließlich kommt, nimmt sich Zeit und macht alle nötigen Untersuchungen. Sie lässt keinen Unwillen erkennen, als sie zu dem Schluss kommt, dass kein akuter Handlungsbedarf besteht und die Einweisung in die Notaufnahme vielleicht gar nicht notwendig gewesen wäre. Rückblickend zeigt sich: Die Hausärztin hat den Ernst der Lage richtig eingeschätzt. Trotzdem bin ich froh, dass meine Mutter wieder zurück ins Heim darf.
Der Rücktransport wird bestellt, der Arztbrief geschrieben. Die Sanitäter, die jetzt kommen, haben meine Mutter einige Tage zuvor schon einmal gefahren. Sie begrüßen sie mit Namen, sind ausnehmend freundlich und zugewandt und fragen auch während der Fahrt immer wieder, ob bei uns alles in Ordnung ist. Dann verfrachten sie zusammen mit der Nachtschwester des Pflegeheims meine Mutter zurück in ihr Bett, machen eine kurze Übergabe und brechen wieder auf.
Ich habe in diesen letzten Wochen viele Menschen erlebt, deren Beruf – vielleicht deren Berufung – es ist, sich um Menschen in Grenzsituationen zu kümmern. In der Altenpflege, in der Krankenpflege, Ärztinnen und Sanitäter, Betreuungskräfte und Physiotherapeuten. Sie alle widmen Zeit, Kraft und Nerven, Phantasie und Kreativität, Professionalität und Empathie den Menschen, die ihnen anvertraut sind. Sie sind täglich mit Leid und Sterben konfrontiert. Dabei erhalten sie sich und den Menschen, für die sie da sind, soweit irgend möglich die Liebe zum Leben. Sie sehen genau hin, was die Menschen von ihnen brauchen, und geben es ihnen, soweit es in ihrer Macht steht. Als ich diese Andacht geschrieben habe, war mir der Donnerstag sehr präsent. Aktuell erlebe ich wie liebevoll meine Mutter – und auch wir Angehörigen – im Seeheim umsorgt werden.
All diese Menschen führen das fort, was Jesus vorgelebt hat. Auch er war ganz Mensch: In der Zuwendung zu den Menschen und in der Empathie. Im Leid, das er selbst am eigenen Leib erfahren hat. Und auch darin, dass diese Menschen lindern und heilen, stehen sie in der Tradition Jesu. Denn er selbst steht dafür, dass das Leid und der Tod nicht das letzte Wort haben. Passion und Ostern. Wo ich solche Menschlichkeit und Zuwendung inmitten einer schweren Zeit erlebe, da spüre ich, dass Christus mitten unter uns ist.
Arnold Glitsch-Hünnefeld