Für Recht und Gerechtigkeit

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Erster Schultag im neu erbauten Gebäude der Ecole Véréna in Haiti (Quelle: Kindernothilfe)

Erster Schultag im neu errichteten Gebäude der Ecole Véréna in Haiti

Der Buß- und Bettag ist ein ernster Feiertag. Ein Tag der Buße und des Gebets. Der Begriff „Buße“ ist in unserem Sprachgebrauch meist mit dem Gedanken an Strafe verbunden. Das griechische Wort, das im Neuen Testament an den entsprechenden Stellen steht, meint eigentlich „Umkehr“. Umkehr von den verfehlten Lebenswegen. Eine Neuausrichtung des Lebens. Dazu gehört ein selbstkritischer Blick auf die Welt und sich selbst. Darin und in der Bitte an Gott um Veränderung besteht für mich das Wesen des Buß- und Bettags.

Traditionell wird in vielen Gottesdiensten zum Buß- und Bettag über das Thema „Krieg und Frieden“ nachgedacht. Aber es gibt jede Menge weitere große Probleme weltweit, in die wir durch unser Verhalten oder durch unsere Lebensumstände verstrickt sind: Corona, der Klimawandel, Flucht und Migration, die ungleiche Verteilung der Güter weltweit.

Diese weltweite Ungerechtigkeit ist mit vielen der anderen Themen verbunden: Die ärmeren Länder haben nur einen Bruchteil der Menge an Impfstoff gegen Corona zur Verfügung, die in den reichen Ländern verabreicht wird. Die reichen Industrienationen haben immer noch einen überdimensionalen CO2-Ausstoß und konnten sich beim Klimagipfel nicht dazu durchringen, den armen Ländern feste Zusagen für finanzielle Hilfen zu machen. Dabei leiden jene schon jetzt besonders heftig unter den Folgen des Klimawandels. Die Liste der Beispiele ist lang.

Ungerechte Verhältnisse sind auch ein wichtiges Thema in der Bibel. Das Lukasevangelium richtet ein besonderes Augenmerk darauf. So überliefert es zum Beispiel eine Geschichte Jesu:

»Einst lebte ein reicher Mann. Er trug einen Purpurmantel und Kleider aus feinstem Leinen. Tag für Tag genoss er das Leben in vollen Zügen. Aber vor dem Tor seines Hauses lag ein armer Mann, der Lazarus hieß. Sein Körper war voller Geschwüre. Er wollte seinen Hunger mit den Resten vom Tisch des Reichen stillen. Aber es kamen nur die Hunde und leckten an seinen Geschwüren. Dann starb der arme Mann, und die Engel trugen ihn in Abrahams Schoß. Auch der Reiche starb und wurde begraben. Im Totenreich litt er große Qualen. Als er aufblickte, sah er in weiter Ferne Abraham und Lazarus an seiner Seite. Da schrie er: ›Vater Abraham, hab Erbarmen mit mir! Bitte schick Lazarus, damit er seine Fingerspitze ins Wasser taucht und meine Zunge kühlt. Ich leide schrecklich in diesem Feuer!‹ Doch Abraham antwortete: ›Kind, erinnere dich: Du hast deinen Anteil an Gutem schon im Leben bekommen –genauso wie Lazarus seinen Anteil an Schlimmem. Dafür findet er jetzt hier Trost, du aber leidest. Außerdem liegt zwischen uns und euch ein tiefer Abgrund. Selbst wenn jemand wollte, könnte er von hier nicht zu euch hinübergehen. Genauso kann keiner von dort zu uns herüberkommen.‹ Da sagte der Reiche: ›So bitte ich dich, Vater: Schick Lazarus doch wenigstens zu meiner Familie. Ich habe fünf Brüder. Lazarus soll sie warnen, damit sie nicht auch an diesen Ort der Qual kommen!‹ Aber Abraham antwortete: ›Sie haben doch Mose und die Propheten: Auf die sollen sie hören!‹ Der Reiche erwiderte: ›Nein, Vater Abraham! Nur wenn einer von den Toten zu ihnen kommt, werden sie ihr Leben ändern.‹ Doch Abraham antwortete: ›Wenn sie auf Mose und die Propheten nicht hören –dann wird es sie auch nicht überzeugen, wenn jemand von den Toten aufersteht.‹« (Lk 16,19-31)

Worum geht es Lukas mit dieser Geschichte? Steht die Drohung mit der Hölle im Mittelpunkt?

Das wäre ein gängiges Klischee von Kirche. Und ja, Drohungen waren ein pädagogisches Mittel, das zur Zeit Jesu durchaus üblich war. Aber die Drohung ist nicht das Kernanliegen, das mit der Geschichte verfolgt wird. Bei Lukas ist Jesus besonders deutlich ein Anwalt der Armen und Benachteiligten. Die lateinamerikanische Theologie der Befreiung knüpft daran an mit der Überzeugung von „Gottes vorrangiger Option für die Armen“. Diese kommen in den gesellschaftlichen Verhältnissen zu kurz. Sie leiden unter der weltweiten Ungerechtigkeit. Gottes Eintreten für sie zieht sich wie ein roter Faden durch die Bibel (die Hebräische und das Neue Testament).

Ungerechte Verhältnisse widersprechen Gottes Willen. Das zeigt sich in der Sozialgesetzgebung in der Tora ebenso wie in der scharfen Kritik der Propheten an den ungerechten Verhältnissen ihrer Zeit. Sie fordern in Gottes Namen Recht und Gerechtigkeit. Dabei ist Recht nicht nur formales Recht und Strafrecht, sondern immer auch Erbarmen. Erst in dieser Verbindung wirkt Recht Gerechtigkeit Darauf bezieht sich die Geschichte, wenn Abraham sagt: „Sie haben Mose und die Propheten“. Das ist eine gängige Umschreibung dieser Zeit für die Hebräische Bibel.

Hinter der Geschichte steht das Vertrauen, dass Gott die Verhältnisse zurechtbringen wird. Das Unrecht wird nicht ewig bestehen bleiben. Dabei will Gott durch Menschen handeln Der reiche Mann in der Geschichte war gefordert, seinen Beitrag zur Änderung der Verhältnisse zu leisten. Aber ihm war das gleichgültig. Ihm war Gottes Wille gleichgültig Er hat Gott zurückgewiesen und sich außerhalb der Liebe Gottes gestellt. Die „Flammen der Hölle“ können auch ein Sinnbild für die brennende Erkenntnis sein, dass er sein Leben verfehlt hat.

Lukas‘ Anliegen ist es, Menschen die Chance zu eröffnen, ihr Leben an Gottes Recht und Gerechtigkeit auszurichten. Anders als zu den Brüdern des reichen Mannes wird Lazarus ja zu den Leserinnen und Lesern des Evangeliums geschickt – eben durch diese Geschichte. Sie hören die Botschaft sogar von einem, der von den Toten auferstanden ist: Jesus Christus.

Wir – zumindest die allermeisten von uns – sind in der Position des reichen Mannes. Wir leben in einem der reichsten Länder der Erde. Auch innerhalb der Gesellschaft dieses reichen Landes gehören die meisten von uns zu den Privilegierten. Die Versorgung an unserer Schule durch die Mensa und den Kiosk mag ein Sinnbild dafür sein, dass wir weit mehr als das Notwendige zum Leben haben. Dank der technischen Ausstattung unserer Schule war und ist es trotz Corona möglich, einen ordentlichen Standard der Bildung zu halten. Wir bewegen uns selbstverständlich auf einem Campus, der vielen anderen wie ein Urlaubsort vorkommen würde. Und die meisten von uns verfügen über Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung, von denen andere nur träumen können.

Demgegenüber stehen zahllose Menschen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Die von allem zu wenig haben. Die nicht wissen, was sie am nächsten Tag auf dem Teller haben werden. Die keine Chance auf eine Schulbildung haben. Die sich nicht fragen, was sie in ihrer Freizeit tun sollen, weil sie keine Freizeit haben, sondern schon von Kindesbeinen an arbeiten müssen. Und so wie die Verhältnisse weltweit sind, beruht unser Reichtum zum Teil auf ihrer Armut. Wir haben die seltenen Erden in unseren Smartphones, die sie unter menschenunwürdigen Bedingungen fördern, um nur ein Beispiel zu nennen.

Die meisten von uns sind in diese Situation hineingeboren. Wir haben uns den Reichtum nicht – oder nur bedingt – verdient. Umgekehrt ist es auch nicht unsere Schuld, dass wir auf dieser Seite der ungerechten Verhältnisse leben. Die Frage ist, wie wir mit dieser Situation umgehen. Ob wir Möglichkeiten finden und ergreifen, einen Beitrag zu einer Änderung der Verhältnisse zu leisten.

Wo das gelingt, da bereitet das Freude. Nicht nur denen, deren Situation verbessert wird, sondern auch denen, die ihren Reichtum oder zumindest einen Teil ihres Reichtums teilen. Die ihn dazu nutzen, ihren Einfluss für gerechtere Verhältnisse geltend zu machen. Davon schreibt Paulus als er die reiche Gemeinde in Korinth zu einer Spende für die arme Gemeinde in Jerusalem aufruft: Das aber sage ich euch: »Wer spärlich sät, wird spärlich ernten. Und wer reichlich sät, wird reichlich ernten.« Jeder soll so viel geben, wie er sich selbst vorgenommen hat. Er soll es nicht widerwillig tun und auch nicht, weil er sich dazu gezwungen fühlt. Denn wer fröhlich gibt, den liebt Gott. Gott aber hat die Macht, euch jede Gabe im Überfluss zu schenken. So habt ihr in jeder Hinsicht und zu jeder Zeit alles, was ihr zum Leben braucht. Und ihr habt immer noch mehr als genug, anderen reichlich Gutes zu tun. … Gott gibt den Samen zum Säen und das Brot zum Essen. So wird er auch euch den Samen geben und eure Saat aufgehen lassen. Euer gerechtes Handeln lässt er Ertrag bringen.

Amen

(Arnold Glitsch-Hünnefeld)