„… der Wahn unserer Zeit“ und der Friede Christi

 

Mittwochsandacht_online

Steffen Drescher / pixelio.de

Die Mittwochsandacht heute fällt auf ein für Deutschland besonders geschichtsträchtiges Datum. Am 9. November 1918, im Angesicht der bevorstehenden Niederlage des Deutschen Reiches im ersten Weltkrieg, rief Philipp Scheidemann die Deutsche Republik aus. Das Kaiserreich war Geschichte.

Auf den Tag genau fünf Jahre später – das Datum war nicht zufällig gewählt – scheiterte Adolf Hitler mit dem Versuch, durch einen Putsch die Republik außer Kraft zu setzen. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, der sogenannten „Reichskristallnacht“, brannten überall in Deutschland Synagogen und wurden jüdische Geschäfte verwüstet. Am 9. November 1989 fiel die Mauer, die 40 Jahre lang zwei deutsche Staaten und – schwerwiegender noch – Menschen von Menschen getrennt hatte.

All diese Ereignisse sind mehr oder weniger mittelbar und oft mindestens ambivalent mit der Kirche verwoben. Der erste Weltkrieg wurde mitunter von den Kirchen bejubelt. „Gott mit uns“ trugen deutsche Soldaten auf ihren Koppelschlössern. Nicht wenige Kirchenvertreter lehnten die Weimarer Republik ab und sehnten sich nach den „geordneten Verhältnissen“ des Kaiserreiches zurück oder einen starken Führer herbei.

Es war eine beschämend kleine Minderheit evangelischer Christen, die gegen die organisierten Ausschreitungen gegen die Juden und gegen die spätere Vernichtungsmaschinerie ihre Stimme erhob. „Nur wer für Juden schreit, darf gregorianisch singen.“ – dieses Bekenntnis Dietrich Bonhoeffers wurde nur von sehr Wenigen geteilt. Immerhin: Dem Fall der Mauer gingen die Montagsdemonstrationen voraus, die von der Leipziger Nikolaikirche aus ihren Ausgang nahmen. Diesmal boten evangelische Christen und ihre Gemeinden dem Unrechtsregime die Stirn.

Die kranken Auswüchse eines Zeitgeistes auf der einen und christliche Motive auf der anderen Seite finden sich immer wieder in den Bildern der Engener Künstlerin, Manuela Prosperi. Einige von ihnen sind derzeit unter dem Motto „Was aber bleibt?“ im Gemeindehaus hier gleich nebenan ausgestellt. Eines scheint mir zum heutigen Datum besonders zu passen. Es ist aus der Serie „… der Wahn unserer Zeit“.

Das Zentrum des Bildes wird von der Darstellung Marias mit dem Jesuskind auf dem Arm beherrscht. Mit dem blauen Umhang und den Spitzbögen im Hintergrund erinnert das Bild an klassische Weihnachtsgemälde. Und doch ist das Bild alles andere als eine Weihnachtsidylle. Zu irritierend sind viele Details, die Maria und das Kind umgeben.

Was rechts unten auf den ersten Blick wie ein Blumenbeet wirkt, könnte bei näherem Hinsehen auch Köpfe darstellen, die sich schutzsuchend die Hände vor ihre Gesichter halten.

Auf der anderen Seite der Diagonalen ein fallendes Kruzifix und darüber vom Himmel stürzende umgekehrte Kreuze. Was ist das, worauf der Gekreuzigte fällt? Eine Kirche, die seine Botschaft an den Zeitgeist verraten hat? Oder symbolisiert das, was ein Kirchturm sein könnte, eher einen Pfeil? Stürzt das Kreuz auf eine Raketenabschussbasis? Hat nicht nur menschliche Gewalt Jesus ans Kreuz gebracht, sondern fällt das Kreuz auf die Gewalt als Mittel zur Lösung von Konflikten zurück? Ein doppeltes Symbol des gewaltfreien Widerstands gegen den Kriegswahn gewissermaßen?

Und was hat es mit den vielen herabstürzenden Kreuzen auf sich? Stehen sie für die Christenverfolgungen, die in manchen Teilen der Welt bis heute Realität sind? Oder sind sie Symbole für die „heiligen Kriege“, die auch im Namen Christi geführt wurden? Man denke nur an die Kreuzzüge. Eine Armada von Kreuzen wie eine Bomberstaffel, die Tod und Zerstörung bringt? Fällt das Kreuz da, wo Kriege von den Kirchen geduldet – wenn nicht gar unterstützt – werden?

Eine weitere irritierende – von der Künstlerin wohl eher nicht intendierte – Assoziation: Die Gesichtszüge des Mannes auf der linken Seite erinnern mich an Klischeebilder des „ewigen Juden“. Auf ihn hagelt es Kreuze. Der christliche Antijudaismus war ein Wegbereiter des Antisemitismus der Nazizeit – und damit auch der brennenden Synagogen am 9. November 1938.

Wie gesagt: Ich nehme nicht an, dass diese Assoziation beabsichtigt ist. Ich denke eher, dass der Krieger für den „Wahn unserer Zeit“ steht, der der Bilderserie den Namen gibt. Im Kern scheint mir das Bild doch ein Statement des christlichen Glaubens gegen Gewalt und Krieg zu sein. Maria nimmt eine abwehrende Haltung ein. Ihr Stab wirkt wie ein Zepter.

„Gott stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen“ heißt es im Magnificat, dem Lobgesang der Maria. Sie schützt die verängstigten Menschen rechts unten im Bild. Das Jesuskind tritt auf den Lauf des Maschinengewehrs. In der Hand hält es eine weiße Blume. Weiß – die Farbe des Friedens. 1933 wurden von der „Gemeinschaft der Frauen gegen den Krieg“ weiße Mohnblumen verkauft als Symbole des Friedens. Nach dem ersten Weltkrieg hatten auf zahlreichen Schlachtfeldern und Gräbern Mohnblumen geblüht.

Die Auseinandersetzung um den Krieg als letztes Mittel treibt die Kirchen aktuell gerade wieder um. Dazu passt ein anderes Bild aus der Ausstellung von Manuela Prosperi. Es trägt den schlichten Titel „Farbkomposition Gelb-Blau“. In diesen Tagen verbinde ich mit dieser Kombination die Landesfarben der Ukraine. Der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche legitimiert den Angriff auf die Ukraine und schürt den Hass unter den Russen. Damit steht er in einer unseligen Tradition der Kirchen in früheren Kriegen. Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland die heute in Magdeburg zu Ende geht, ringt derweil um eine gemeinsame Haltung zu der Frage, ob es richtig ist, dass die Ukraine mit Waffen unterstützt wird.

Jesus hat sich immer wieder klar gegen den Einsatz von Gewalt gestellt. Das bringt das Bild treffend zum Ausdruck. Mit den Worten „Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert umkommen“ weist er den Jünger in die Schranken, der einem der Milizionäre ein Ohr abschlägt, als die ihn gefangen nehmen. Jesus verzichtet darauf, sich mit Gewalt verteidigen zu lassen, und geht sehenden Auges in den Tod am Kreuz. Er durchbricht die Logik von Gewalt und Gegengewalt.

Trotzdem: Dass die EKD um eine Haltung angesichts des Ukrainekrieges ringt, finde ich wichtig und richtig. Das zeigt, dass sie es sich in dieser Frage nicht zu einfach macht. Prinzipiell gilt zwar: „Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein.“ Aber gibt es nicht vielleicht Situationen, in denen ein aufgezwungener Krieg gekämpft werden muss, um noch schlimmeres Übel zu verhindern – einen Völkermord zum Beispiel?

Jesu Aufruf zu Gewaltverzicht und Feindesliebe ist wohl ein Ideal, an dem auch Christinnen und Christen allzu oft scheitern. Und doch bleibt er für uns Richtschnur und Orientierung. Jesu Haltung ist eine heilsame Infragestellung unserer Logik. Gottes Wille und Gottes Verheißung ist eine Welt, in der Frieden und Gerechtigkeit herrschen. Lasst uns allen Rückschlägen zum Trotz daran festhalten. Sei er auch noch so klein, lasst uns trotzdem unseren Teil zum Bau am Reich Gottes beitragen.

Arnold Glitsch-Hünnefeld