„Der Blick in den Spiegel“

Mittwochsandacht_online

buwal / pixelio.de

Wieder einmal feiern wir die Andacht am Vortag des Höhepunkts der Fastnacht. Mir sind in diesem Jahr der Plakate ins Auge gefallen, die an verschiedenen Orten zum Narrenspiegel einladen. Ich hatte Ideen entwickelt und mir Gedanken gemacht, wie ich dieses Thema mit der biblischen Botschaft in Verbindung bringen wollte.

Dann aber habe ich all das über den Haufen geworfen. Denn vor zwei Wochen ist unserer Kirche selbst ein Spiegel vorgehalten worden, der sie in ihren Grundfesten erschüttert. Am 25. Januar wurde der Leitung der Evangelischen Kirche in Deutschland der Abschlussbericht der ForuM-Studie übergeben. In dieser Studie wurden Missbrauch und sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche in Deutschland und ihrer Diakonie untersucht. Dokumentiert werden Hinweise auf insgesamt 1.259 Beschuldigte und 2.225 Opfer. Und damit sind längst nicht alle erfasst. Die tatsächliche Zahl liegt vermutlich deutlich höher.

Dass es Missbrauch auch in der evangelischen Kirche gegeben hat und dass dieser viel zu lange vertuscht wurde, hat mich nicht überrascht. Dass Missbrauch ein Problem nicht nur der katholischen Kirche ist, konnte jedem klar sein. Schließlich hat es auch an unserer Schule Missbrauchsfälle gegeben. Das ist bekannt und dokumentiert. Was mich erschreckt hat, ist das Ausmaß, die schiere Zahl der Übergriffe und die Tatsache, dass offenbar immer noch der Reflex greift zu vertuschen und kleinzureden. Das beschämt mich zusätzlich. Ich sage „zusätzlich“, weil jeder einzelne Missbrauchsfall für mich als Vertreter der Kirche beschämend ist. Dass in der Kirche Vertrauen missbraucht und zerstört wurde, dass Schutzbefohlenen Gewalt angetan wurde und dass ihnen allzu oft kein Gehör geschenkt, sondern sie mundtot gemacht wurden, ist für mich schwer erträglich.

Inzwischen hat Heike Springhart, unsere Landesbischöfin, einen Brief an die Mitarbeitenden in der Landeskirche geschrieben. Darin findet sie klare Worte. Ich möchte einige Abschnitte daraus zitieren:

„Unsere Kirche und Diakonie hat im Umgang mit Übergriffen und sexualisierter Gewalt versagt. In den zahlreichen Gesprächen und Erklärungen dieser Tage kann es nicht darum gehen, formelhafte Entschuldigungen zu sprechen und überraschte Erschütterung zum Ausdruck zu bringen. Das, was die Studie ans Licht bringt, war für Betroffene und für die, die offene Ohren hatten, schon seit Jahren zu sehen und zu hören. (…)

Betroffene stehen nicht außerhalb unserer Kirche. Wir müssen mit dem Skandal umgehen, dass innerhalb unserer Kirche Vertrauen missbraucht wurde und Menschen solches Leid und Wunden zugefügt wurden, die oft ein Leben lang nicht heilen. Erst wenn es uns gelingt, eine Kultur und Haltung zu entwickeln und zu pflegen, die das offene Herz wagt, die sensibel hinhört und entschieden handelt, erst dann nehmen wir wirklich ernst, was uns die ForuM-Studie vor Augen führt. (…)

Es waren oft allzu fromme Reden, in denen, statt Unauflösbares und Schuld auszuhalten, vorschnell von Vergebung geredet wurde, aber dadurch faktisch Verstummen erzwungen wurde. So wurde aus falsch verstandenem Evangelium gewaltbringende Ideologie. Wir müssen uns eingestehen: Wir haben nicht genug gehört. Wir haben nicht genug geschützt. Jeder einzelne Fall bringt zum Einsturz, wofür die Evangelische Kirche stehen sollte und wollte.

Dabei müssen wir anerkennen und ernstnehmen, dass es sich um ein Dickicht mit vielen Grautönen handelt. Täter erschleichen sich nach und nach das Vertrauen, das Umfeld will oder kann es nicht wahrhaben, und institutionell tappen wir immer wieder in die Falle, die Institution und ihre Amtsträger schützen zu wollen. Nein, es geht nicht um eine Kultur des Misstrauens und natürlich hat die Institution immer auch eine Fürsorgepflicht für ihre Amtsträger*innen. Aber da, wo Verantwortung nicht wahrgenommen wird, wo wir eine Harmoniekultur pflegen, die über Brüche, Verwerfungen und Schuld allzu schnell hinweg geht, da versagen wir als Institution und jede und jeder von uns als Verantwortliche*r darin. (…)

Wir stehen als Kirche dafür, dass Grenzen geachtet und Vertrauen nicht missbraucht wird. Daran müssen wir uns auch künftig messen lassen. Wir brauchen jetzt beides: Entschiedenes und klares Hinsehen, wo unsere Haltung und Strukturen sexualisierte Gewalt ermöglicht haben – und die Bereitschaft, auszuhalten, dass sich das alles nicht schnell wegerklären lässt. (…)

Mit dem Spiegel vor Augen, den uns die Studie vorhält ist klar: es kann nicht um den Schutz unserer Institution gehen. Es geht darum, die Erfahrung von Betroffenen zu hören, ernst zu nehmen und entschieden zu handeln. So bewahren wir auch das, was der Schatz unserer Kirche ist: Vertrauen, Mut zur Verletzlichkeit und Hoffnung, dass es auch aus Scherben einen Neuanfang geben kann.“

Soweit Worte der Landesbischöfin. Was bedeutet das für unsere Schule? Die Veröffentlichung der Studie fällt in eine Zeit, an der uns das Thema Rassismus und Rechtsextremismus umtreibt. Muss die Kirche jetzt in Demut schweigen, statt sich weiter in gesellschaftliche Debatten einzubringen? Nein, das muss sie nicht und sie darf es auch nicht. Sie muss sich da zu Wort melden, wo Menschen missachtet und gedemütigt werden, wo Menschen Gewalt angetan wird, wo so mit Menschen umgegangen wird, dass es dem Willen Gottes und dem Evangelium Hohn spricht. Aber sie kann und darf das nicht vom hohen moralischen Ross aus tun. Sie darf sich selbst nicht von der Kritik ausnehmen und nicht länger die Augen davor verschließen, wo sie Täter hervorbringt und Täter nicht länger schützen.

Stattdessen sie muss sich an die Seite der Opfer stellen. Wir müssen die Augen und Ohren füreinander offen halten. In unserem Umfeld, bei uns an der Schule. Da, wo wir mitbekommen, dass Mitmenschen Gewalt erleben, nicht wegsehen und schweigen. Sondern den Opfern Mut machen, sich Hilfe zu holen, und selbst den Mut haben, anzusprechen, was wir sehen. Wir brauchen eine Kultur des Vertrauens und der Vertrauenswürdigkeit. Daran lasst uns arbeiten – mit Gottes Hilfe.

Arnold Glitsch-Hünnefeld