„Das Wort ward Fleisch“

Mittwochsandacht_online

Für diese Andacht habe ich nach längerer Zeit mal wieder die Tageslosung als Ausgangspunkt gewählt. Also steht am Anfang nicht – wie sonst meistens – ein Thema, bei dem ich dann in einem zweiten Schritt schaue, was die Bibel dazu zu sagen hat. Sondern das Wort Gottes soll am Anfang stehen und den Blick auf die Gegenwart lenken.

So verstehe ich den Sinn der Losungen. Jedem Tag eines Jahres wird von der Herrnhuther Brüdergemeine ein Vers aus dem Alten Testament zugelost. Dahinter steht nicht die Vorstellung, dass es eine spezielle, quasi magische, Verbindung zwischen Text und Tag gäbe. Sondern die Losungen sind eine Anregung, darüber nachzudenken, was das jeweilige Wort für den Tag zu sagen hat. Zu jeder Losung aus dem Alten Testament wird dann ein passender Abschnitt aus dem Neuen Testament ausgesucht, der „Lehrtext“. Hierbei gilt also nicht mehr das Losprinzip, sondern die bewusste Wahl.

Die Losung für heute steht in Psalm 90 Vers 16: „Zeige deinen Knechten deine Werke und deine Herrlichkeit ihren Kindern.“ Ein Wunsch von vielen gläubigen Menschen angesichts der Krisen und Probleme der Gegenwart: Corona, die brenzlige Situation zwischen der Ukraine und Russland und dazu fast täglich Nachrichten, die die Glaubwürdigkeit der Kirche weiter erschüttern. Wie wohltuend wäre es, wenn Gott sich einmal richtig deutlich zeigen und dem einen oder anderen Problem ein Ende bereiten würde.

Der Psalm 90 ist im Leben der Kirche stark mit dem Thema „Vergänglichkeit“ verbunden. Der vielleicht bekannteste Vers lautet: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Der Wunsch, dass Gott sich zeigen möge, ist also angesichts der Endlichkeit des Lebens gesprochen. Diese ist in dieser Zeit sehr gegenwärtig. Der Psalm schlägt allerdings den Bogen zwischen Vergänglichkeit und Ewigkeit. Er beginnt mit den Worten: „Herr, du bist unsre Zuflucht für und für. Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ So verbindet sich der Wunsch danach, dass Gott seine Herrlichkeit zeigen möge, mit dem Wunsch, an seiner Ewigkeit Anteil zu bekommen. Mit dem Wunsch, dass etwas bleibt.

Hier kommt der Lehrtext für heute ins Spiel. Er ist aus dem 1. Kapitel des Johannesevangeliums entnommen: „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“ Bei der Auswahl hat sicher das Kirchenjahr eine Rolle gespielt. Wir befinden uns in der Epiphaniaszeit, der Zeit der Erscheinung des Herrn. Es ist der von Weihnachten geprägte Festkreis im Kirchenjahr. „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns.“ In diesen Worten ist das Weihnachtsgeschehen auf eine knappe Formel gebracht. Gott wurde Mensch in Jesus Christus. „Und wir sahen seine Herrlichkeit.“ Sie ist uns erschienen. Der Wunsch aus Ps 90 ist darin erfüllt.

Auch der Johannesprolog hebt mit der Ewigkeit an: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ Und weiter: „In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen.“ Sein Licht leuchtet auch und gerade in finsterer Zeit. Epiphanias – Erscheinung des Herrn.

Das Lied, das zu Epiphanias gehört wie „O du fröhliche“ zu Weihnachten, heißt: „Jesus ist kommen, Grund ewiger Freude“. Sein erster Vers geht weiter:

„A und O, Anfang und Ende steht da.

Gottheit und Menschheit vereinen sich beide;

Schöpfer, wie kommst du uns Menschen so nah!“

„Anfang und Ende“ – „Du, Gott, bist von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ „Gottheit und Menschheit vereinen sich beide.“  – „Das Wort ward Fleisch.“

Gottheit und Menschheit verbinden sich in der Person Jesu. Das Wort Gottes – es war schon zuvor in der Welt. Übermittelt unter anderem durch die Propheten. Doch jetzt bekommt das Wort ein menschliches Gesicht, das Antlitz Jesu. „Wir sahen seine Herrlichkeit.“ Jesus hat das Wort Gottes in letzter Konsequenz gelebt. Er hat das Wort auf einzigartige Weise mit Leben gefüllt. Es bekommt Fleisch für uns. Jesus hat Licht und Liebe in das Leben der Menschen gebracht, die ihm begegnet sind.

Vermittelt durch Jesus Christus verbinden sich Gottheit und Menschheit auch in Menschen, die ihm nachfolgen. In Jesus Christus identifiziert sich das Wort mit den Menschen. Das Wort begegnet uns in den Menschen, die uns im Geist Jesu begegnen. In Menschen, die sich ihrer Mitmenschen liebevoll annehmen – auch und gerade in Zeiten wie der gegenwärtigen. Gott zeigt sich. Er zeigt seinen Kindern seine Werke und seine Herrlichkeit. Nicht spektakulär. Sondern menschlich.

Amen

Arnold Glitsch-Hünnefeld