„Alles bei euch geschehe in Liebe“ – Alles!?!

Mittwochsandacht_online

Manchmal gibt es einen inneren Zusammenhang zwischen mehreren aufeinander folgenden Gottesdiensten oder Andachten. In den Sonntagsgottesdiensten der kommenden Wochen wird Pfarrer Klaus eine Predigtreihe zum Thema „Schöpfung“ halten. Ich bin schon gespannt darauf. Manchmal ist es auch reizvoll, wenn ein und dasselbe Thema von verschiedenen Menschen beleuchtet wird. In der Andacht am vergangenen Mittwoch und im Gottesdienst am vergangenen Sonntag haben Herr Franke und Pfarrer Klaus jeweils die Jahreslosung für 2024 betrachtet. Ich habe aus beiden Auslegungen viel mitnehmen können. Und ich bin zum eigenen Weiterdenken angeregt worden. Deshalb gehe ich heute auch noch einmal auf die Jahreslosung ein.

„Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe.“ So schreibt Paulus im Schlusskapitel des 1. Korintherbriefes. Herr Franke hat herausgestellt, dass es bei dieser Liebe nicht um ein Gefühl, sondern um ein aktives Handlungsprinzip geht. Zusammenarbeit, Wertschätzung und Fehlertoleranz waren Stichworte. Pfr. Klaus hat ebenfalls einen Schwerpunkt auf das Tun gelegt. Unter anderem hat er dazu aufgerufen, das, was man tut, nicht nur aus Routine oder Pflicht zu tun, sondern weil man liebt, was man tut. Und auch ihm ging es darum, dass die Mitmenschen in die tätige Liebe mit eingeschlossen werden.

Herr Franke hat zu Recht darauf hingewiesen, dass diese Aufforderung des Paulus eine Herausforderung ist. Die Aufforderung zu lieben, ergibt überhaupt nur dann Sinn, wenn es um tätige Liebe geht. Wenn ich den Text näher betrachte, wird es allerdings noch komplizierter. Das zeigt sich schon an den teils sehr unterschiedlichen Übersetzungen des Verses. Die für die Jahreslosung gewählte Übersetzung „Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe“ ist der Einheitsübersetzung entnommen, die in der katholischen Kirche gebräuchlich ist. In der Lutherübersetzung heißt es: „All eure Dinge lasst in der Liebe geschehen.“ Da ist von „Tun“ gar keine Rede. Das entspricht dem griechischen Originaltext. Dafür sind bei Luther die Adressaten direkt aufgefordert: „… lasst in der Liebe geschehen“. In dem Punkt ist diese Übersetzung freier als die Jahreslosung. Dem Originaltext am nächsten kommt die Elberfelder Bibel: „Alles bei euch geschehe in Liebe.“

Der Vers wird in der Regel als Aufforderung verstanden. Das ist insofern auch korrekt, als da ein Imperativ steht. Aber wie ist ein Imperativ bei einem Wort zu verstehen, das sowohl grammatikalisch als auch inhaltlich eher passiven – oder zumindest reflexiven – Charakter hat? Das griechische Wort bedeutet zunächst einmal „werden“ – geboren oder geschaffen werden. Die Aufforderung „werde“ oder „sei“ ist merkwürdig. Sie kann eigentlich nur von Gott ausgesprochen werden. Sein schöpferisches Wort rief die Welt und uns alle ins Leben. „Gott sprach: ‚Es werde Licht.‘ Und es ward Licht.“

Deshalb ist es naheliegend, den Vers der Jahreslosung auf das Tun zu beziehen. Da funktioniert das mit der Aufforderung besser. Und wenn ich so über die Aufforderung von Pfr. Klaus nachdenke, zu lieben, was ich tue, dann merke ich: Das fällt mir das oft gar nicht so schwer. Ich liebe z.B. meinem Beruf – als Pfarrer und auch speziell als Schulpfarrer an dieser Schule. Ich liebe die Arbeit mit Menschen. Ich liebe es, in einem Kollegium zu arbeiten, wo wir uns gegenseitig unterstützen und wertschätzen. Ich liebe es, mit Schüler*innen über die großen Fragen des Lebens nachzudenken und zu diskutieren. Ja, ich liebe meinen Beruf. Und ich liebe auch die Menschen, mit denen ich es zu tun habe. Jedenfalls die meisten. Natürlich nicht so, wie ich meine Frau oder meine Töchter liebe. Sondern im neutestamentlichen Sinn einer tätigen Haltung. Ihr liegt mir am Herzen. Deshalb freue ich mich in der Regel, wenn auf meinem Weg am See entlang das Schloss auftaucht und ich den Campus betrete.

Manchmal aber muss ich mich überwinden, zur Arbeit zu gehen. Und da taucht unversehens ein zweites Problem – neben dem eigenartigen Imperativ – auf, das ich bei der Jahreslosung sehe. „Alles“ geschehe in Liebe. Ich liebe, was ich tue. Aber liebe ich wirklich alles (und das bedeutet zugleich immer)? Manche Korrektur einer Klassenarbeit oder einer Klausur zieht sich in die Länge und ist doch eher öde. Und natürlich geht Ihr mir auch manchmal auf die Nerven. Genauso wie ich umgekehrt Euch nicht immer nur Freude bereite. „Alles bei euch geschehe in Liebe“ würde bedeuten, dass in jeder Sekunde Liebe zwischen uns herrschen soll. Das halte ich nicht nur für eine Herausforderung, sondern für eine Überforderung.

Vielleicht geht es aber gar nicht (nur) um die Liebe, die wir aufbringen – füreinander und zu dem, was wir tun. Für Paulus (und nicht nur für ihn) liegt der Ursprung der Liebe bei Gott. So könnte der Vers auch bedeuten: „Alles bei euch, geschehe in der Liebe Gottes“. Seiner Liebe verdanken wir unser Dasein. Seiner Liebe verdanken wir es, dass wir etwas tun können. Und seiner Liebe verdanken wir, dass etwas in Liebe tun können. Von seiner Liebe umfangen sind auch die Tätigkeiten, die wir mühsam und öde finden. Von seiner Liebe umfangen, sind auch die Begegnungen, in denen wir uns missverstehen und auf die Nerven gehen. Wenn ich darauf vertraue, dass Gott mich und mein Handeln liebevoll annimmt – auch da wo es mühsam und unvollkommen ist, dann fällt es mir vielleicht auch leichter, es selbst liebevoll anzunehmen.

Und so schwingt für mich in der Aufforderung der Jahreslosung auch eine Zusage mit: „Alles, was ihr tut, wird in der Liebe geschehen“ – in der Liebe Gottes. Wo beides zusammenkommt – die Liebe Gottes, die all unser Sein und Tun und umfängt, und unsere Liebe, mit der wir an unsere Aufgaben angehen und unseren Mitmenschen begegnen, da entsteht Resonanz. Da können Dinge geschehen, die wir nicht für möglich halten. Ich wünsche uns allen in diesem Jahr viele solche wunderbaren Erfahrungen.

Arnold Glitsch-Hünnefeld