Der weinende Prophet
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„Storm“ von Engin Akyurt / pixabay
„Weh mir, meine Mutter, dass du mich geboren hast! Ich liege mit aller Welt im Streit, und alle feinden mich an. Dabei bin ich niemand Geld schuldig und habe von anderen nichts geliehen. Trotzdem verfluchen mich alle.
Herr, du weißt alles! Denk an mich und kümmere dich um mich! Bedenke, dass ich das alles nur deinetwegen erleide. Nie saß ich mit anderen froh zusammen, nie konnte ich fröhlich sein. Von deiner Hand niedergedrückt, saß ich einsam da. Du hattest mich mit Missmut erfüllt. Warum nimmt mein Leiden kein Ende? Warum ist meine Wunde so tief, dass sie nicht heilen kann? Eine Täuschung bist du für mich. Du bist wie Wasser, von dem man nicht weiß, ob es da ist oder nicht.“ (aus Jer 15)
Hättet Ihr gedacht, dass das Worte eines der ganz großen Propheten Israels sind? Sie stammen von Jeremia. Er gehört neben Jesaja und Ezechiel zu den großen Propheten der Hebräischen Bibel. Sein Wort hatte Gewicht in Juda. Selbst der König fragte ihn um Rat. Trotzdem sind da diese bitteren Worte. Und sie sind nicht die Einzigen. Immer wieder finden sich solche Klagen im Jeremiabuch. Jeremia wird deshalb in der Tradition auch der „weinende Prophet“ genannt.
Wie passt das zusammen? Tatsächlich war Jeremia eine beeindruckende Persönlichkeit, aber er hatte es auch oft nicht leicht. Seine Aufgabe als Prophet hatte er sich nicht ausgesucht. „Ich bin zu jung“ hatte er Gott geantwortet, als der ihn zum Propheten berief. Aber der bestand auf seiner Berufung und sicherte Jeremia seine Unterstützung zu.
Jeremia hatte ein feines Gespür für Gottes Willen und dafür, wo die Dinge nicht so liefen, wie es Gottes Willen entsprach. Und so warnte er sein Volk und die Großen des Volkes bis hin zum König. Immer wieder sagte er ihnen, dass sie in ihr Unglück rennen würden, wenn sie ihren Weg nicht änderten. Besonders das Ansinnen der Führungsschicht, einen Aufstand gegen die Besatzungsmacht der Babylonier anzuzetteln, war aus seiner Sicht blanker Irrsinn.
Damit hat er sich nicht nur Freunde gemacht. Immer wieder wurde er persönlich angegriffen, lächerlich gemacht und sogar körperlich misshandelt. Einmal wurde er in einen leeren Brunnen geworfen, ein anderes Mal ins Gefängnis. Und am Ende hörte der König doch nicht auf ihn, sondern auf die falschen Propheten, die versprachen, dass sein Krieg Erfolg haben werde. Aber Jeremia sollte Recht behalten. Die Babylonier eroberten und zerstörten Jerusalem und den Tempel, bestraften den König grausam und verschleppten die Oberschicht nach Babel. Jeremia blieb mit ein paar Getreuen zurück, die sich an Gottes Wort gehalten hatten und jetzt eine Übergangsverwaltung organisierten.
Doch wieder gab es einen Aufstand. Der Gouverneur wurde ermordet und aus Angst vor der Rache der Babylonier flohen die Drahtzieher nach Ägypten und zwangen Jeremia dazu, mit ihnen zu gehen. Dort verliert sich seine Spur. Es ist vielleicht kein Wunder, dass auch so ein Großer wie Jeremia unglücklich war. Der weinende Prophet. Heute würde man vielleicht sagen, dass er depressiv war.
Ich habe es nicht annähernd so schwer wie Jeremia. Ich lebe in Freiheit und gesicherten Verhältnissen. Ich habe keine Feinde und werde nicht gemobbt. In meinem Beruf begegne ich fast täglich Menschen, die mir am Herzen liegen und deren Gegenwart mir gut tut – Euch und meinen Kolleg*innen. Und doch fällt es mir manchmal morgens schwer aufzustehen, weil ich mich frage, wie ich den anbrechenden Tag überstehen soll. Solche dunklen Gefühle können jeden Menschen treffen. Vielleicht sind sie Euch auch nicht ganz fremd.
Manchmal nehmen solche Gefühle überhand. Dann können sich Menschen nicht mehr vorstellen, jemals wieder froh zu werden. In solchen Fällen spricht man von einer Depression. Die kann Gründe wie Mobbing oder Notendruck haben, aber das muss nicht sein. Keinen Grund dafür zu finden, warum es einem so schlecht geht, ist sogar noch schlimmer.
Ich bin froh, dass ich in solchen schwierigen Phasen therapeutische Hilfe gefunden habe. Das ist nicht selbstverständlich, denn es gibt zu wenig Therapieplätze. Wenn also Schüler*innen, die zu kämpfen haben, einen Platz in der Luisenklinik oder einen ambulanten Therapieplatz bekommen, bin ich dankbar dafür.
Bis es soweit ist, schlagen sie sich oft irgendwie im Schulalltag durch. Und wenn sie aus einem Klinikaufenthalt zurückkommen, heißt das noch lange nicht, dass alles ok und stabil ist. Was sie von Euch und von uns brauchen, ist Respekt und Einfühlungsvermögen. Dumme Sprüche sind jedenfalls das Letzte, was sie gebrauchen können. Ihr seid und wir sind nicht ihre Therapeut*innen. Aber wir können und sollen als Menschen für sie da sein.
Jeremia war oft niedergeschlagen und deprimiert. Aber er konnte sich wieder aufraffen. Weil er Menschen an seiner Seite hatte, die ihn wieder aufgerichtet haben. Die mit ihm dafür gekämpft haben, Juda vor dem Untergang bewahren. Auch wenn sie damit schließlich keinen Erfolg hatten. Die seine Worte aufbewahrt und weitergegeben haben, so dass sie uns bis heute in der Bibel überliefert sind. Die ihm gezeigt haben, dass der Beistand Gottes kein leeres Versprechen war, auch wenn Jeremia ihn manchmal nicht wahrnehmen konnte. Und so kann Jeremia mitten in der Not zu Gott beten: „Heile mich, Herr, dann bin ich geheilt! Hilf mir, dann ist mir geholfen! Denn du bist der Grund für mein Lobgebet.“ (Jer 17,14) Diese Erfahrung – nicht nur zu hören, sondern zu spüren, dass wir Gottes geliebte Kinder sind – die wünsche ich uns allen.
Arnold Glitsch-Hünnefeld