Wartet nicht auf den „Wind of change“

82 Abiturienten nahmen ihr Zeugnis entgegen

82 Abiturienten im Allgemeinbildenden und in den Beruflichen Gymnasien der Evangelischen Schule Schloss Gaienhofen konnten am 9. Juli ihr Abiturzeugnis entgegennehmen. Der Gesamtdurchschnitt beider Schularten liegt bei 2,1; Felizian Weber, Sophie Müller und Philipp Mülhaupt schlossen ihre Schullaufbahn mit dem Traumschnitt von 1,0 ab.

Vielleicht war es in diesem Jahr ein besonders bewusster Moment, als die 82 jungen Menschen zu festlichen Orgelklängen in die voll besetzte Melanchthonkirche einzogen. Sie beendeten ihre Schullaufbahn am selben Ort, an dem sie auch ihren Anfang genommen hatte: in einer gottesdienstlichen Feier. Alle Anwesenden genossen wieder das Gefühl, besondere schulische Ereignisse als Schulgemeinde zu erleben.

„Wenn ihr Zukunft noch als Gestaltende und nicht als Getriebene erleben wollt, müsst ihr in eurer Lebenszeit viele Dinge ändern, die in eurer Eltern- und Großelterngeneration anders geregelt sind.“, eröffnete Dieter Toder seine Rede und warnte die jungen Menschen davor, der Hybris zu folgen, die die Gesellschaft kennzeichne und als Ursache für Krisen und Katastrophen unserer Zeit gesehen werden könne.

Toder folgte in seiner Argumentation der Position von J. Krause und T. Trappe in ihrem Werk „Hybris. Eine Reise der Menschheit zwischen Aufbruch und Scheitern“, die die Gesellschaft ebenfalls dazu auffordern, ihren Lebensstil den neuen Gewissheiten und Realitäten anzupassen. In Anlehnung an den von den Skorpions neu aufgelegten Song „Wind of change“appelliert er an die Abiturienten, nicht auf eine solche zukunftsändernde Brise zu warten, sondern „selbstlos, gemeinschaftsdienlich und nicht gegen gemeinsame Interessen gerichtet“ zu handeln.

Als wäre es abgesprochen gewesen, antwortete eine Vokalgruppe mit „A Million Dreams“ aus dem Film „Greatest Showman“, bei dem es schien, als hätte die Botschaft des Schulleiters bereits seit langem die Köpfe der jungen Menschen erreicht, wenn sie ausdrucksvoll, mit reiner Intonation und überzeugender Textsicherheit sangen: „A million dreams are keeping me awake, I think of what the world could be, a million dreams for the world we’re gonna make.“

Schon in der geistlichen Besinnung von Schuldekan Thomas Kirchberg und Schulpfarrer Arnold Glitsch-Hünnefeld war das Bild angeklungen, dass es in Anlehnung an Derridas „Das wilde Denken“ mehrerer Zugänge zur Welt bedürfe – analog zu den millions of dreams – dass Gott jedoch Orientierung in dieser Welt biete: „Ich glaube, dass unsere Wirklichkeit ein Zentrum hat, das nicht dem Spiel der ewig einander ablösenden Zeichen unterworfen ist. Ich glaube, dass unsere Wirklichkeit einen festen Grund hat. Ich glaube, dass Gott der Ingenieur ist, der die Wirklichkeit zusammenhält, wo wir Menschen unweigerlich immer Bastler bleiben müssen.“

Die Vertreterin der Eltern, Susanne Keller, und die Abiturienten Ella Schauerte, Philipp Mülhaupt und Louis Glaser waren sich in ihren Worten an die Festgemeinde einig: Ein Abitur in einer von Corona gebeutelten Zeit abzulegen ist der Beweis dafür, dass die jungen Menschen Herausforderungen zu meistern imstande sind und darum bestens vorbereitet neue Wege als Reise und Abenteuer – „Abitour crossing over into a new life“ – begreifen können.

Die Abiturienten setzen aber auch die Gemeinschaft in den Mittelpunkt ihrer Rede an Eltern, Mitschüler und Lehrer, dank derer die „stürmische Fahrt im selben Boot“ in ruhige Gewässer und damit in eine zuversichtliche Einstellung angesichts einer herausfordernden Zukunft geführt habe.

Wolfgang Werner als Mitglied des Freundes- und Förderkreises beglückwünschte die Abiturienten, indem er jenen Gemeinschaftsgedanken aufgriff. Er lud sie ein, als Ehemalige weiterhin der Schule verbunden zu bleiben und Teil des weltweiten Netzwerkes zu werden, das den Zusammenhalt in der Gemeinschaft weiterträgt.

Clara Eiglsperger und Louis Glaser wurden für ihr jahrelanges überdurchschnittliches Engagement mit dem Turmkreuz ausgezeichnet – der höchsten Auszeichnung der Schule, das an verdiente Schüler, Mitarbeiter und der Schule Verbundene seit 1962 verliehen wird.

Auszug aus der Rede der Abiturienten:

Ich erinnere mich als unser Klassenlehrer, Herr Urban, damals in der Unterstufe – es mag die sechste Klasse gewesen sein – uns mit erhobenem Finger dieses Gleichnis mitteilte: „Ihr seid jetzt Krümel, wir Lehrer sind die Bäcker, irgendwann werdet ihr zu Muffins werden und erst mit dem Abitur seid ihr vollwertige Kuchen.“ Ich verstand zunächst einmal nur die Grundzüge dieser Aussage, reflektierend erschließt sich mir aber eine zusätzliche Sichtweise.Die Qualität eines jeden Backstückes hängt maßgeblich vom Können und dem Einsatz des Bäckers ab, er entscheidet sich nach bestem Wissen und Gewissen für ein passendes Rezept.

Fehlt dem Bäcker aber sein Werkzeug, ist seine Bäckerei also mangelhaft für sein Können ausgestattet, so kann dieser sein Potenzial nicht nützen. Ein jeder von uns kann nun beweisen, ob aus ihm ein Pfannekuchen oder eine Hochzeitstorte geworden ist. Frisch gebacken können wir nun zugeben: Gut Ding will tatsächlich Weile haben und ausgelernt hat man nie. Was in der Backstube gilt, kann also auch breiter gesehen werden.

Auszug aus der Rede des Schulleiters:

Also: es kommt jetzt auf Euch an! Ihr müsst auf eine neue Art Prometheus sein und bisher gültige Regeln und Gesetze und Gewissheiten überwinden, Ihr müsst im übertragenen Sinne den heutigen Göttern „Wirtschaft“, „Wachstum“, „Fortschritt“, „fossile Brennstoffe“ das Feuer stehlen und den Beginn einer neuen Zivilisation setzen:
„Ihr nähret kümmerlich / Von Opfersteuern / Und Gebetshauch / Eure Majestät.“  (Goethe, Prometheus, 1772)
Gewissheit gibt es keine, aber Gottvertrauen. Und immer wieder die Erfahrung, dass bei allen Rückschlägen auf dem Weg der Menschen in eine gerechtere Zukunft die Hoffnung nicht unterzukriegen ist! Die Skorpions, eine deutsche Rockband, die es seit Ende der 1960er Jahre gibt, haben in Donezk, in Charkiw, in Odessa gespielt.
Sie haben ihren 1989 geschriebenen Song „Wind of Change“ mit dem Text: „I follow the Moskwa / Down to Gorky Park / Listening to the wind of change” nach dem 24. Februar 2022 umgeschrieben. Er lautet jetzt: „Now listen to my heart / it says Ukrainia / waiting for the wind of change.”
Hört für Eure eigene Zukunft auf Euer eigenes Herz, nicht auf die Forderungen der heutigen Götter. Übt Euch im „wilden Denken“, wie ihr es in der Andacht vorhin gehört habt, um neue Strukturen für diese Welt zu legen. Und wartet nicht auf einen „wind of change“, sondern handelt selbst, selbstlos, gemeinschaftsdienlich und nicht gegen gemeinsame Interessen gerichtet.

Auszug aus dem Grußwort des Freundes- und Förderkreises:
Nichts ist für immer, nur die Schule, die Schule ist aus – für immer. Endlich, oder?
Irgendwann werdet ihr feststellen, dass die Schulzeit eigentlich gar nicht so übel war. Denn Schule ist mehr als nur lernen, Hausaufgaben, Klausuren, usw.
Schule, das sind u. a. auch all die Leute, die ihr täglich gesehen habt, mit denen ihr geredet, gelacht oder auch gefeiert habt. All das ist nun vorbei. Ihr werdet als ganze Stufe heute zum letzten Mal zusammen sein.
Schade, eigentlich sogar traurig.  Aber: da gibt es einen Verein. Den Verein der Ehemaligen.

Auszug aus dem Grußwort der Eltern:
Lasst euch inspirieren von der Vielfalt der Wege.  Es gibt steinige, kurvige, steile Wege und jeder davon ist besonders, einzigartig, so wie ihr es seid.
Wenn ihr heute nach Hause geht, liegen neue Abenteuer vor euch. Einige von euch gehen zum Studieren, andere streben eine Ausbildung an. Manche absolvieren ein FSJ, wieder andere zieht es in die Ferne. So werdet ihr nun eigene Wege suchen und finden.
Friedrich Nietzsche hat hierzu treffend gesagt:
«Es gibt in der Welt einen einzigen Weg, auf welchem niemand gehen kann außer dir. Wohin er führt? Frage nicht, gehe ihn!»
Habt dabei den Mut etwas auszuprobieren und verzweifelt nicht, wenn nicht alles auf Anhieb klappen sollte.

Auszug aus der geistlichen Besinnung:
In den hinter Euch liegenden Prüfungen wird es so manches mal vorgekommen sein, dass Ihr spontan gedacht habt: „Kein Plan!“ Die Frage war dann: Wie damit umgehen? Resignieren, still die Sachen zusammenpacken und den Prüfungsraum verlassen? Diese Lösung habt Ihr offensichtlich nicht gewählt, sonst wärt Ihr jetzt nicht hier. Die andere Lösung ist, sich irgendwie mit allem, was einem gerade so einfällt, durchzuwursteln.
(…)
Ihr werdet Pläne für die Zukunft haben. Manche schon sehr detailliert, manche noch eher vage. Manches davon wird sich realisieren, anderes nicht. Der Horizont ist offen. Im Vertrauen auf Gott ist das keine bedrohliche Vorstellung, sondern ein Geschenk von Freiheit. Werkzeuge, die Zukunft zu bestehen habt Ihr in der Schulzeit einige an die Hand bekommen. Ihr könnt auf sie zurückgreifen, auch wenn sie möglicherweise eigentlich für einen anderen Zweck gedacht sind. Mit der Hilfe Gottes, des Ingenieurs, werden die Basteleien und die gebastelten Lebensentwürfe zu guten Zielen geführt. Das wünsche ich Euch. Amen.