„…als wäre die Welt tot“

THEATERmobileSPIELE zu Gast in Gaienhofen

Ein Maschendrahtzaun grenzt den Klassenraum von einem Bereich ab, der in schmutzigem Grau von blutdurchtränkten Lumpen, zerfetzten Kleidungsstücken und verbeulten Töpfen gestaltet ist. Eine Figur wühlt panikartig gehetzt in den Kleiderhaufen, schlingt in regelmäßigen Abständen einige Löffel Erbsenbrei in sich hinein. Als wäre er ein letzter Überlebender und die Welt tot.

Auf den ersten Blick eine wenig anmutende Szenerie für Schüler der Evangelischen Schule Schloss Gaienhofen, die vom THEATERmobileSPIELE in die Grauen erregende Welt von Büchners Woyzeck mitgenommen wurden. Das fragmentarische Werk ist Pflichtlektüre für den Leistungskurs Deutsch im Abitur 2024.

Doch mit Julian Koenig wird die Welt hinter dem Drahtgeflecht plötzlich lebendig. In ihr begegnen die jungen Zuschauer dem psychisch kranken Soldaten Woyzeck, der von seinen Vorgesetzten permanent gedemütigt wird und schließlich einen Mord an seiner Geliebten Marie begeht. Um seine Partnerin und ihr gemeinsames Kind zu ernähren, lässt er sich auf ein unmenschliches Experiment ein, das ihn zwingt, sich von Erbsen zu ernähren und ihm auch körperliches Leiden beschert.

Nach dem Mord tauchen in Woyzecks Visionen alle seine Peiniger nach und nach aus dem Kleidermeer auf – als Zombie-Puppen, ohne Augen, ohne Seele. Und immer wieder unterbricht ein Jahrmarktsschreier die erniedrigenden Diskussionen mit dem Hauptmann, dem Doktor, dem Tambourmajor und Marie, die Woyzeck „als Ausstellungsstück, als Laborratte, als geschlagenen Straßenköter“ (Thorsten Kreilos) hinter Gittern zur Schau stellen.

„Es ist schon eine Interpretation, was ihr hier gesehen habt, nicht das originale Stück – und es ist unbequem und aufrüttelnd – nicht zum Genießen“, erläutert Koenig in einem anschließenden Gespräch mit den Schülern sein Konzept. Wer das Theater-Team kennt, weiß, dass hier stets mit provokanten Inszenierungen zu rechnen ist, die durchaus politische und soziale Schlagkraft haben. „Ich fand es echt beeindruckend, wie Sie als einzelner Schauspieler alle Figuren des Werks mit Tiefgang dargestellt und gezeigt haben, wieviel Mitschuld die Umwelt an Woyzecks Schicksal hat“, fassten die Schüler schließlich das Stück zusammen. Und sie nahmen sich diesseits des Zauns selbst wahr – als Zeugen, die zwanghaft zusehen, wie ein Mensch zugrunde gerichtet werden kann, wenn er in ungünstige (Menschen-)Konstellationen gerät.

Es ist das unmittelbare Mit(er)leben von Gefühlsregungen und Lebensäußerungen des Schauspielers, das nicht nur junge Menschen nachhaltig beeindruckt und die von Woyzeck erlittenen Demütigungen direkt nachvollziehbar macht. Literatur wird mit diesem Konzept auf eine besondere Art lebendig und liefert nicht nur eine neue Sichtweise auf ein Theaterstück, sondern lädt zu einer kritischen Perspektive auf Gesellschaft und Welt ein.

Auf dem kapitalistischen Markt wird er zur zynischen Allegorie für die überall verratenen unverkauften Bastarde, für die wir kein Auge haben, die sich immer schon in den schattigen Ecken irgendwelcher Hinterhöfe herumdrücken, sich in Altkleider-Containern wegducken und ihrem eigenen Getrieben-Sein hinterherdackeln. DAS SIND WIR. (Thorsten Kreilos)