Menschen (weder Über noch Unter)

Mittwochsandacht_online

Jerzy Sawluk  / pixelio.de

„Ist das dein Hund?“ Erschrocken schaut sie sich um. Die Stimme ist männlich, tief und kräftig, und sie kommt aus dem Nichts. Auch als Dora aufsteht, kann sie niemanden entdecken. (…) „Hey! Ob das die Scheißköter ist!“ Endlich kann sie den Mann orten. Er steht hinter der hohen Mauer aus Hohlbausteinen, die die Flurstücke trennt. Ein runder, kahl geschorener Kopf guckt über den Mauerrand. Wie eine Kugel scheint er auf der Kante zu balancieren. (…) Zögernd geht Dora auf den Mann zu. (…) „Gote“, sagt der Nachbar. Irritiert schaut Dora zur Straße, ob sich irgendetwas nähert, dass diese Bezeichnung verdient. „Gote“, wiederholt der Nachbar nachdrücklich, als wäre Dora schwerhörig oder jedenfalls schwer von Begriff.

Anscheinend soll das ein Name sein, auch wenn nicht klar ist, ob es sich um einen Vor- oder Nachnamen handelt. „Westgote oder Ostgote?“ fragt Dora. Jetzt ist es wieder am Nachbarn irritiert zu schauen. Ein Zeigefinger erscheint über der Mauer und deutet auf seine rechte Schläfe. „Gote“ sagt er noch einmal. „Wie Gottfried.“ Ein bisschen fühlt sich das an wie die Kommunikation zwischen Robinson und Freitag, nur ohne zu wissen, wer Robinson und wer Freitag ist. Auch Dora hebt einen Zeigefinger und deutet auf sich selbst. „Dora“, sagt sie. „Wie Dorf-Randlage.“ (…) „Angenehm“, sagt Gote. „Ich bin hier der Dorf-Nazi.“ (S.39f.43-45)

Als ich in den Osterferien gesehen habe, dass mit „Über Menschen“ ein neuer Roman von Juli Zeh erschienen ist, war klar, was ich als Nächstes lesen würde. Bevor ich Gelegenheit hatte zur Buchhandlung zu fahren, habe ich ein bisschen in die Bewertungen im Internet geschaut. Auffällig war, dass es fast ausschließlich entweder Lobeshymnen oder Verrisse gab und kaum etwas dazwischen. „Ich bin ein großer Fan von Juli Zehs Büchern, ihrem Schreibstil, der Art wie sie Geschichten erzählt, …“. In diesem Stil beginnen die meisten Verrisse.

Der Grund, warum die Verfasser*innen das Buch trotzdem vehement ablehnen, ist, dass aus ihrer Sicht der Nazi zu sympathisch gezeichnet und damit seine rechte Gesinnung verharmlost wird. „Soll ich jetzt nach jedem gezeigtem Hitlerguss, nach jedem Attentat, nach jeder Querdenker-Demo denken: ‚Hey, alles nur halb so schlimm. In Wirklichkeit sind das nette Typen?‘ Geht’s noch?“ So endet eine Rezension. Und das Fazit einer anderen lautet: „Stilistisch tadellos – inhaltlich eine Ode auf Hass mit menschlichem Antlitz“.

Ich war also gespannt, zu welchem Schluss ich nach dem Lesen kommen würde. Dass es – wie eigentlich immer bei Juli Zeh – gut geschrieben ist, kann ich voll und ganz bestätigen. Mit der Bewertung der Botschaft tue ich mich schwerer.

Zunächst einmal musste ich mir eingestehen, dass ich mich an verschiedenen Stellen des Buches ertappt gefühlt habe. Zum Beispiel, als Doras „Rassismus-Starre“ beschrieben wird: Blondinenwitz sind die Pest, aber immer noch besser als Araberwitze. Dora ist keine strenge Verfechterin von political correctness. Aber mit fremdenfeindlichen Sprüchen kommt sie absolut nicht zurecht.

Sie verfällt sofort in Rassismus-Starre. Schnappt stumm nach Luft und schämt sich später, dass sie weder das Gespräch gesucht hat noch lautstark für Demokratie und Menschlichkeit eingetreten ist. Zwar weiß sie nicht, ob es einem Nicht-Rassisten jemals gelungen ist, einen Rassisten von der Unsinnigkeit des Rassismus zu überzeugen. Aber sie spürt eine moralische Pflicht, ihr Bestes zu versuchen. Und scheitert daran. Sie weiß nicht einmal, ob es stimmt, dass die meisten Rechten nicht gesprächsbereit sind. Weil sie selbst nicht gesprächsbereit ist. (S.83f) Allzu oft finde ich in vergleichbaren Situationen auch keine angemessene Reaktion.

Das Verhältnis zwischen Dora und Gote, dem Dorf-Nazi, entwickelt und gestaltet sich kompliziert. Die Einschätzung aus den Verrissen, dass das Buch bei einem „Alles halb so schlimm“ landet, teile ich nicht. Dora entwickelt zwar Sympathie für Gote – im buchstäblichen Sinn des Wortes: Mit-Leiden. Im Lauf der Handlung wird sogar so etwas wie Freundschaft daraus – und irgendwie auch wieder nicht. Wiederholt ist sie abgestoßen von seiner Gesinnung und gelegentlich gelingt es ihr, ihre Rassismus-Starre zu überwinden und Gote zu widersprechen.

An einer Stelle bringt die Autorin Doras Zwiespalt auf den Punkt: Jetzt geht [Gote] neben Dora und schirmt ihren Körper mit seinem eigenen vom Straßenverkehr ab. (…) Gelegentlich schaut er auf sie herunter, mit einem schiefen Lächeln, als mache er sich darüber lustig, dass sie schon wieder nicht weiß, was sie von ihm halten soll. In Zeiten von George Floyd geht sie mit einem Nazi zum Fest. Es gelingt ihr einfach nicht, eine Haltung zu finden. Vielleicht, denkt Dora, ist das Einnehmen von Haltungen nur so lange richtig und wichtig, wie man die Dinge aus sicherer Distanz betrachtet. (S.350)

Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich denke – zugegebenermaßen aus sicherer Distanz, dass es notwendig ist eine Haltung zu entwickeln. Die menschenverachtende Gesinnung von Nazis lehne ich aus tiefster Seele ab. Und da gilt es auch – nicht nur aus sicherer Distanz – Farbe zu bekennen. Das allein fällt mir schon schwer genug. Als Christ bin ich aber darüber hinaus gefragt, den Menschen hinter der Gesinnung zu sehen. Jemanden, der in Kategorien von Über- und Untermenschen denkt, nicht meinerseits zum Untermenschen zu erklären. Menschenverachtung nicht mit Menschenverachtung zu beantworten. Ich verachte die Gesinnung. Aber der Mensch, der sie vertritt, bleibt trotzdem Mensch. Und damit – so schwer es mir fallen mag, das wahrzunehmen – ein Ebenbild Gottes.

Daraus folgt für mich nicht political correctness Nazis gegenüber. Ich habe an Musikstücken wie „Schrei nach Liebe“ und an Cartoons über Nazis meinen Spaß. Aber hilft es in der direkten Begegnung weiter, wenn ich mein Gegenüber in der Annahme bestätige, dass er in meinen Augen Dreck ist? Wenn ich ihn in seiner Opferrolle bestätige?

Wenn Menschen sich als Menschen begegnen, mag es – wenn auch sehr selten – gelingen, verhärtete Fronten aufzuweichen. Und ganz vielleicht gelingt es sogar, erste Risse in einer betonierten Gesinnung entstehen zu lassen.

Zugegeben: Von diesem Anspruch bin ich in aller Regel weit entfernt. Aber das Buch von Juli Zeh fordert mich dazu heraus, zumindest mal in Gedanken meine Komfortzone zu verlassen. Es ist wie ein Steinchen im Schuh, das sich immer wieder in Erinnerung und mich zum Nachdenken bringt. Das ist in meinen Augen ein Qualitätsmerkmal. Möge es uns gelingen, einander als Kinder Gottes zu begegnen – klar in der Haltung und zugleich menschlich.

Arnold Glitsch-Hünnefeld

(gehalten am 21.7.21 in der Melanchthonkirche in Gaienhofen)

Die Zitate sind sämtlich aus Juli Zeh: „Über Menschen“, Luchterhand, München 2021