Eine zweite Heimat
Mit der Gründung eines Internats kam die Kirche unmittelbar nach Kriegsende einer Aufgabe nach, die sie als Auftrag immer hat: seelsorgerisch und missionarisch und auch diakonisch tätig zu sein. Das Internat war über sechzig Jahre unter der Leitung von Pfarrern eine zweite, oft auch die erste Heimat für Kinder und Jugendliche aus ganz unterschiedlichen Elternhäusern: anfänglich Kriegsflüchtlinge und -waisen, zunehmend Berufstätige, Geschäftsleute und Akademiker, auch Pfarrer, ein Querschnitt der sich ausbildenden bundesrepublikanischen Gesellschaft. Erziehungsauftrag im Internat blieb unter je veränderten Bedingungen weiter, was ein früher Schulleiter feststellte:
„Unsere Schule ist für viele Kinder, die zu Hause weder eine christliche Erziehung noch elterliches Vorbild empfangen haben, geradezu ein Missionshaus.“ (1)
Schulpfarrer als Internatsleiter
Internatsleiter waren auch Schulpfarrer, die wöchentliche Andachten, monatliche Gottesdienste sowie alle weiteren Kirchenfeste und Konfirmationen in der Schulgemeinde feierten, oft in der Gestaltung unterstützt von der Kantorei und einem Arbeitskreis für Schülergottesdienste. Über die Wirkmechanismen sagte ein Internatsleiter,
„… dass in dem in Gaienhofen vorgegebenen Rahmen eine ganze Menge getan werden kann, um junge Menschen mindestens mit dem christlichen Glauben in Verbindung zu bringen…. Und man kann außerdem einiges dafür tun, dass die Schulgemeinde … Gemeinschaft und Geborgenheit anbietet.“ (2)
Gelebte Gemeinschaft
Gemeinschaft gelebt wurde aber vor allem in den Häusern oben im Dorf, in Schloss und Marstall sowie in den vielen Arbeitsgemeinschaften, die musische, technische oder sportliche Begabungen pflegten: dies sind seit 1950 die Theater-AG, seit 1952 die erfolgreiche Ruder-AG, der wenig später die Segel-AG folgte, und 1972 wurde die Jugendfeuerwehr für Gaienhofen hier im Internat begründet, mit Feuerwehrgarage und Mannschaftswagen.
Auch das Werken und überregionale Wettkämpfe sowie die in Konzerten und Gottesdiensten über die Internatsschule hinaus wirkende Kantorei haben das Schul- und Internatsleben maßgeblich geprägt. 1998 wurde nochmals ein neues Haus eingeweiht, das „Günter-Adolf-Heim 1“ auf der Breite, in dem sich heute das Rathaus der Gemeinde befindet. Im Laufe der Jahrzehnte lebten hier „auf Zeit“ einige spätere Künstler, Autoren, Wissenschaftler und Musiker.
Eine lebenslange Gemeinschaft
Der Freundes- und Förderkreis pflegt bis heute die Kontakte der Ehemaligen untereinander sowie zur Schule. Eine Internatsschülerin erinnert sich so:
„Es sind in dieser Zeit sehr starke Freundschaften entstanden. Einige der jungen Menschen, die sich vor 30-35 Jahren kennengelernt und die jahrelang auf engem Raum miteinander gelebt haben und miteinander erwachsen geworden sind, haben ein ganz starkes Band des Vertrauens geknüpft, was … in einer Tagesschule gar nicht möglich ist.“ (3)
Entwicklung der Schülerzahlen
Von Anfang an hat sich die Internatsschule auch in ihren Schülerzahlen gut entwickelt: 1963 besuchten gut 300 Schüler diese Schule, davon waren über 200 im Internat untergebracht, weit über den heutigen Schulcampus hinaus: An verschiedenen Orten hier in Gaienhofen („Alter Bach“ 1952, Gütebohl und Erlenloh 1957, Günter-Adolf-Heime 1972) und in der Umgebung („Bella Vista“ in Marbach 1959) waren Jungen- und Mädchenhäuser mit Heimleiterehepaaren untergebracht. Viele Lehrer waren zeitgleich im Internatsdienst eingesetzt. 1973 war die Gesamtzahl der Schüler etwas gestiegen, auf etwa 350, die Zahl der Internatsschüler leicht gefallen auf knapp 200.
Von der Internats- zur Regionalschule
In den folgenden 40 Jahren gingen die Belegungszahlen extern – intern immer weiter auseinander, so dass schließlich mit einem Verhältnis von knapp 7 : 1 (550 gesamt; davon 83 im Internat) 2003 eine kritische Zahl erreicht war, bei der Eltern nicht mehr zu gewinnen waren, die eine „richtige“ Internatsschule suchten, also eine, in der tatsächlich zumindest die Mehrheit der Schüler auch in der Schule wohnt. Die Schule war stark zu einer Angebotsschule auf der Höri geworden. 2010 wurde im Stiftungsrat der Schulstiftung der Evangelischen Landeskirche, zu der die Evangelische Internatsschule seit 2002 gehört, die Schließung des Internats und der weitere Ausbau der Schule zur Regionalschule beschlossen. 2013 machten die letzten „Internen“ hier Abitur. Die Geschichte des Internats bleibt integraler Bestandteil der Schule und wirkt über den Ort hinaus.
1) Schloß Gaienhofen. Evangelische Internatsschule 1946 – 1986, Verlag Stadler Konstanz, S. 50
2) Ebda., S. 56
3) Wegmarken 1946-2006. Schloss Gaienhofen. Evangelisches Internat am Bodensee, MDS-Verlag Gaienhofen, S. 158