Der Klang der Stille
Mittwochsandacht_online
Habt ihr ihn gehört – den Klang der Stille inmitten des Eingangsstücks gerade eben? Er ist gar nicht so oft zu hören. Der Alltag ist erfüllt von Klängen und Geräuschen. Manchmal empfinde ich das als störend – wenn ich Mühe habe, mich am Schreibtisch auf die Arbeit zu konzentrieren und vor meinem Fenster Kinder in der Sonne und im See toben. Oft freue ich mich aber an den fröhlichen Kinderstimmen und der Lebensfreude, die sie ausstrahlen. Manchmal suche ich den Lärm geradezu, setze mir den Kopfhörer mit lauter Musik auf die Ohren oder stürze mich auf einem Festival ins Getümmel.
Wenn ich den Klang der Stille finden will, suche ich ihn bei anderen Gelegenheiten. Morgens zum Beispiel. Wenn ich bei Tagesanbruch mit dem Hund meine Runde mache und noch kaum ein Mensch unterwegs ist. Völlige Stille herrscht allerdings auch dann nicht. Vögel zwitschern, Tauben gurren und dazwischen immer wieder der Ruf eines Kuckucks oder ein paar frühe Blesshühner. Je nachdem rauscht auch das Wasser des Sees oder der Wind in den Bäumen. Trotzdem empfinde ich in diesen Momenten eine wohltuende Ruhe. Vielleicht geht es gar nicht um absolute Stille, sondern um die Abwesenheit des Lauten. Auf diese Weise wird das Leise hörbar, das in den Geräuschen des Alltags leicht untergeht. Es eröffnen sich neue Räume.
Ruhe suche und finde ich auch in der Kirche. Im Gottesdienst und jenseits des Gottesdienstes. Am vergangenen Sonntag wurde im Gemeindehaus wieder einmal eine Kunstausstellung eröffnet. Gezeigt werden Werke von Magdalena Oppelt, unserer ehemaligen Schulsekretärin, und von Petra Harder. Als erstes habe ich die besondere Atmosphäre des Raumes wahrgenommen. Wo sonst Gottesdienste gefeiert werden, ist jetzt ein Raum ganz ohne Stühle. Nichts lenkt die Aufmerksamkeit vom Zusammenspiel der ausgestellten Bilder und Plastiken ab. Es ist, als führten sie ein stilles Zwiegespräch miteinander.
An der Stirnseite des Gemeindehauses findet sich ein Ensemble aus Figuren und Bildern sowie Kreuz und Altar. Kirchenraum und Galerie verbinden sich. Kunst und Spiritualität verschmelzen. Ich erkenne: Glaube hat auch etwas mit Schönheit zu tun.
Im Zentrum sehe ich zwei Bilder von Magdalena Oppelt. Sie wirken wie Geschwister. Beide zeigen Muscheln bzw. Schnecken auf einem dunklem Hintergrund. „Vergiss-mein-nicht“ heißt das eine Bild, „Der Klang der Stille“ das andere. Die Muscheln erinnern mich an Sommerurlaub, Meer, Spaziergänge am Strand. Die Bilder sind ganz auf das Wesentliche reduziert. Anders als bei dem Bild weiter rechts über dem Klavier gibt es kein Blau, kein Wasser im Hintergrund. Nur die Schnecke ist dargestellt, sonst nichts. Die Textur der Farbe erinnert an Sand – vielleicht auch an Holz, Treibgut am Strand. In den warmen Weißtönen nehme ich etwas von der Wärme eines Sommerabends am Meer wahr. Obwohl ausschließlich die Muscheln abgebildet sind, ist in deren Darstellung die Erinnerung an Meer und Strand präsent. In der Reduktion schwingt das Ganze mit, aber ohne den Blick, die Konzentration abzulenken.
Bei dem Titel „Der Klang der Stille“ habe ich an das „Meeresrauschen“ gedacht, das man hören kann, wenn man sich so eine große Schnecke ans Ohr hält. Anders als ich früher dachte, höre ich da nicht das Blut in meinen Adern rauschen, sondern die Resonanz der Geräusche in der Umgebung. Das bedeutet: In einem stillen Raum höre ich auch in der Muschel kein Rauschen, sondern den Klang der Stille. Es öffnet sich ein neuer Raum. Ein Raum der Begegnung mit mir selbst – und mit Gott
Gott offenbart sich nicht (nur) im Lauten und Spektakulären. In 1.Kön 19 wird erzählt, wie der Prophet Elia Gott begegnet. Er ist auf der Flucht, zu Tode erschöpft und will sterben. Aber Gott hat noch etwas mit ihm vor. Von einem Boten Gottes mit dem Nötigsten gestärkt, geht Elia den weiten Weg zum Gottesberg Horeb. Dort findet er Unterschlupf in einer Höhle. Gott fordert ihn auf, hinauszugehen und vor ihn hin zu treten. Ein gewaltiger Sturm, ein Erbeben und ein Feuer ziehen an der Höhle vorbei. Aber Gott ist in keiner dieser drei Naturgewalten. Als sich ein stilles, sanftes Sausen erhebt, verhüllt Elia sein Haupt und tritt hinaus. Er hat erkannt, dass Gott in diesem stillen, sanften Sausen ist. Im Klang der Stille findet Elia zu Gott – und zu sich selbst.
Dem Lärm des Alltags entfliehen. Die Stille suchen: In einem Kirchenraum, in der Natur oder an einem anderen Ort, wo es stimmig ist. Zu sich selbst finden. Sich öffnen für die Begegnung mit Gott. Orientierung finden. Neue Kraft schöpfen. Gestärkt in den Alltag zurück gehen und sich den Herausforderungen stellen. Ich wünsche Euch und Ihnen Gelegenheiten dazu.
Arnold Glitsch-Hünnefeld
(gehalten am 30.6.21 in der Melanchthonkirche in Gaienhofen)
Die Kunstausstellung im evangelischen Gemeindehaus Gaienhofen läuft noch bis zum 25.7.21. Nähere Informationen gibt es hier.