Andacht zur Jahreslosung 2016

„Ich will Euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ (Jes. 66, 13)

Es ist schon eine kleine Tradition, dass der Schulleiter die erste Andacht im neuen Jahr zur Jahreslosung hält, die lautet: „Ich will Euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ (Jes. 66, 13)

Zu Beginn, als ich diese Losung zum ersten Mal las, war ich erleichtert bei dem Gedanken, damit vor Schüler zu treten. Schüler und Kinder wissen am ehesten noch, viel besser vielleicht als manche Erwachsenen, was es bedeutet, von der eigenen Mutter getröstet zu werden. Also, ganz einfach, diesen Vergleich auszulegen.

Bei näherer Betrachtung jedoch – und bei dem Gedanken, es handelt sich hierbei um unsere Jahreslosung – fand ich dieses Wort eher irritierend: Fühlen wir uns wirklich in großer Zahl als trostbedürftig? Trost braucht man doch erst, wenn es einem schlecht geht. Geht es uns schlecht, im Ganzen betrachtet? Trifft die Jahreslosung auf die Glücklichen nicht zu oder sollten wir doch alle trostbedürftig sein, irgendwie? Was bedeutet dieses Bibelwort für die, die sich gar nicht nach Trost sehnen?

Vielleicht, in einer ersten Annäherung, soviel: wenn einer leidet, leiden die anderen mit, empfinden, zeigen Mit-leid; wenn ich selbst nicht trostbedürftig bin, macht mir die Jahreslosung vielleicht bewusst, dass es andere in meinem Lebensumfeld gibt, die trostbedürftig sind, für die ich Mitleid empfinde! Und davon gibt es wahrlich genügend:
  • in persönlicher Nähe, weil jemand einen geliebten Angehörigen durch den Tod verloren hat, der trauert um einen lieben Menschen; in näherer Umgebung, weil Menschen ihre Heimat verloren haben, weil sie ihre Heimat verlassen haben, um Krieg, Hunger, Unrecht zu entgehen und die zu uns fliehen, um hier Schutz und, ja eben: Trost zu finden;
  • in der weiteren Umgebung, in anderen, heutzutage jedoch nicht mehr allzu fernen Gegenden der Welt, nur ein paar Autostunden oder Flugstunden entfernt, weil Menschen in eigentlich unmenschlichen Verhältnissen leben und ausharren müssen: Kinder, die vom Müll leben, junge Erwachsene, die dem Gesetz der Straße ausgeliefert sind, Alte, die nicht genug zu essen, zu heizen, zum Wohnen haben, geschweige denn eine Pension oder Rente.

All die Menschen, die da draußen so leben müssen, bedürften unseres Trostes, unseres Mitleids. – Ja, sollen wir jetzt die ganze Welt umarmen? Macht unser Mitleid diese Menschen glücklicher? Können sie sich was dafür kaufen? Nein, natürlich nicht! Und der hier in diesem Vers angesprochene Trost ist auch etwas anderes als so ein allgemeines Unrechts- oder Mitleidsgefühl.

Halten wir uns noch mal vor Augen, in welchen Situationen wir getröstet werden müssen: bei Kindern ist das offensichtlich, sie müssen oft, manchmal aus uns nichtig erscheinenden Gründen getröstet werden. Bei Erwachsenen scheint auch klar, dass es deutlichere, gewissermaßen größere Ursachen geben muss: Schmerz, Verlust, Verlassenheit, Trennung, Scheitern, Tod. In solchen Situationen ist es wichtig, Trost erfahren zu dürfen.

Wenn man weiter darüber nachdenkt, stellt man fest: Trost ist nicht primär tätige Abhilfe, sondern das Traurige bleibt, es wird lediglich gemildert, gelindert. Diese Linderung geschieht häufig auf eine sehr elementare Weise, nämlich durch bloßes Dasein, Berühren, Hand halten, in den Arm nehmen. Und, natürlich, durch milde Worte, durch sensiblen Zuspruch. Trost kann also die Belastung, den Schmerz, die Trauer nicht wegschaffen; Trost kann das Schwere aber mildern.

Beim Trösten sind es materielle Aspekte, die keine große Rolle spielen. Die Seele braucht Zuwendung, sie braucht Beziehung, nicht Sachen. Deshalb kommt man diesem Spruch „Ich will euch trösten wie einen seine Mutter tröstet“ nicht auf der rational analysierenden Ebene bei, etwa indem man sich fragt, was man denn jetzt konkret machen kann, wie man agieren kann gegen das Leid, das Mit-leid auslöst, sondern auf der radikal menschlichen Ebene. Und so, meine ich, ist der Bibelspruch auch zu lesen: Gott begegnet uns auf der rein menschlichen Ebene; nicht nur in seinem Mensch gewordenen Sohn Jesus Christus, nein, auch in jedem anderen Menschen, wenn wir uns öffnen für ihn und wenn wir unsere Gefühle zulassen, jenseits aller Klügelei und aller scharfer intellektueller Analyse.

Dabei gibt es eine Gefahr, die aus der großen Nähe der beiden Begriffe „trösten“ und „vertrösten“ entsteht: der Unterschied zwischen Trost und Vertröstung ist nicht so einfach und trennscharf oder gar objektiv bestimmbar. Was für den einen als Trost empfunden wird, kann von dem anderen als bloße Vertröstung aufgefasst – und damit: abgelehnt werden. Für das „rechte Wort zur rechten Zeit“ gibt es keine objektiv klaren Regeln. Aus Angst, nur zu vertrösten, schweigen wir oft auch dann, wenn wir reden sollten. Denn jeder Trost ist auch eine Selbstoffenbarung, eine Mitteilung über einen selbst. Das muss man können, zulassen können. Dazu muss man stehen können.

Und jetzt, aus dieser Perspektive betrachtet, liegt das Gewicht der Jahreslosung auf dem ersten Teil des Satzes: „Gott spricht: ich will Euch trösten“ – darin liegt eine unendlich beruhigende, berührende Aussage. Ein Zuspruch, jenseits allen Vergleichs mit der Mutter. Ich will euch trösten, das heißt auch: Ihr könnt euch auf mich verlassen, ich will euch nicht vertrösten, sondern in welchem Leid auch immer, stärken und stützen, die Last mildern. Sie zwar nicht abnehmen, diese Last, sie aber tragbar machen, erträglich. In allem Leid – erträglich. Und damit Hoffnung auf ein Weiterleben geben, das nicht für immer geprägt sein muss von Elend und seelischer Not.

Auch von Jesus heißt es in den Evangelien: „es jammerte ihn ihrer“, das heißt er nahm die Verletzungen, das Leiden, die Schuld und die Zerbrechlichkeit der Menschen wahr. Er sagte auch: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.“ (Mt. 11, 28). Auch er, Jesus, erquickt, er tröstet.

Getröstet zu werden ist eine ganz banale, vornehmlich emotionale Erfahrung. Die besondere Bedeutung von Nähe, Dasein und Körperkontakt haben die meisten Menschen im Trost durch die Mutter erfahren. Es ist daher auch wieder kein Zufall, dass Jesaja den göttlichen Trost als Trost bezeichnet, wie einen seine Mutter tröstet.

So, in diesem elementaren Sinn, haben wir alle schon mal Trost erfahren! Und so, in diesem Sinne, sind wir also doch alle des Trostes bedürftig, nicht immer, aber immer wieder! In einer bedrückenden Situation, die ich alleine und aus eigener Kraft nicht bewältigen oder ändern kann, kehre ich zurück in frühkindliche Verhaltensweisen, besinne ich mich als Kind Gottes darauf zurück, dass Gott uns mit „Mutterhänden“ durch das Leben leitet.

Und ich kann mich darauf besinnen und darauf verlassen, dass er uns so auch in diesem jetzt vor uns liegenden Jahr leiten und, wo nötig, trösten wird.

Amen.

Dieter Toder

in Anlehnung an eine Lesepredigt von Pastor i.R. Dr. Friedrich Hauschildt, Celle-Klein Hehlen