Bertha von Petersenn – Idealistische Reformpädagogin
(4. Oktober 1862 – 2. Oktober 1910)
Einer wohlhabenden Zürcher Familie entstammte sie, die älteste Tochter des Pathologen Prof. Eduard von Rindfleisch und seiner Frau Helene. Die Familie lebte zeitweise in Bonn und Würzburg. Tochter Bertha Helene Ferdinande wurde zunächst von Privatlehrern unterrichtet, später besuchte sie in Stuttgart das Katharinen-Stift, ein »Pensionat für Töchter der höheren Stände«. Früh bekam das Mädchen Klavierunterricht. Einer ihrer Lehrer war der aus dem Baltikum stammende Georg von Petersenn, den sie 1882 heiratete.
Zwei Jahre später zog das Ehepaar nach Berlin, wo Georg von Petersenn eine Professur an der Königlichen Hochschule für Musik erhielt. Bertha ihrerseits wollte das Bildungssystem für Mädchen neu gestalten. Die »gutbürgerliche« Erziehung Ende des 19. Jahrhunderts hatte sie am eigenen Leib erlebt und empfand das gesamte System als komplett unzureichend und reformbedürftig. Lediglich zu Gattinnen, Hausfrauen und Müttern hätten sie und ihre Mitschülerinnen herangebildet werden sollen, kritisierte Bertha. Vor allem auf Äußerlichkeiten habe man dabei Wert gelegt. Individuelle Anlagen, Begabungen und Persönlichkeiten seien völlig außer Acht gelassen worden.
Bertha von Petersenns Forderung: Frauen müssten auf die Wahl zwischen tradierter Rolle und beruflicher Unabhängigkeit vorbereitet werden. Herzensbildung sei dabei entscheidend, ebenso sittliche Festigung und Sportlichkeit. Auch mit den Problemen der Zeit sollten sich Schülerinnen auseinandersetzen. Mit der »Bleichsucht« durch Eisenmangel beispielsweise, mit sozialer Ausgrenzung, Armut oder Abhängigkeit.
In den vornehmen Berliner Salons lernte Bertha den Reformpädagogen Hermann Lietz kennen. Er trug ihr seine eigenen progressiven Ansätze vor, die sie tief beeindruckten. Leider waren seine Konzepte ausschließlich auf Jungen ausgerichtet. Darum gründete Bertha mit Lietz’ Unterstützung eine eigene Privatschule nahe Berlin, das erste »Deutsche Landerziehungsheim für Mädchen«. Die Idee, so zitiert sie Berthas Urenkel Lorenz Rönnebeck:
»Eine Erziehungsstätte zu schaffen, die in sorgsamer Weise ihr Augenmerk auf die körperliche, sittliche, geistige und praktische Ausbildung richtet.«
Wie in einer großen Familie sollten die Schülerinnen zusammenleben. Eine ganzheitliche Erziehung erfahren und unter einfachen Lebensbedingungen kindgerecht aufwachsen. Individuelle Persönlichkeiten und Wünsche waren dabei unbedingt zu berücksichtigen. Nur so könnten sich die Mädchen zu selbstständigen, tüchtigen und willensstarken Frauen entwickeln. Eine schier unerhörte Vorstellung für die damalige Zeit.
1904 zog Bertha von Petersenns private Bildungs- und Erziehungsinstitution an den Bodensee. Zunächst pachteten die Petersenns das Schloss Gaienhofen auf der Höri, anno 1905 kauften sie das Anwesen. Dort gab es große Räume, Gärten, Wiesen und Spielplätze. Wesentlicher Grund für die Wahl des Ortes: Das Land Baden stand dem Thema Mädchenbildung liberal gegenüber und betrieb eine verhältnismäßig fortschrittliche Schulpolitik. Bereits im Jahr 1900 waren dort junge Frauen zum Universitätsstudium zugelassen worden.
Der Internatsbetrieb begann 1904 mit 14 Schülerinnen, vier Jahre später waren es bereits 33, 1930 etwa 60 Schülerinnen. Hinzu kamen Externe aus der Umgebung. Durch die Isolation der Schule sollte ein Schutzraum für die jungen Mädchen geschaffen werden. In diesem Sinne ließ Bertha, die »ungesunde« Sitten wie Trinken oder Rauchen strikt ablehnte, eine Wirtschaft nahe der Schule kaufen und abreißen.
Der Unterricht erfolgte größtenteils nach dem Lehrplan für Oberrealschulen. Die Abschlussprüfungen wurden in Konstanz abgelegt. Beim Aufbau der Schule bekam es Bertha von Petersenn immer wieder mit wirtschaftlichen Problemen zu tun. Auch war es schwierig, geeignetes Lehrpersonal für die aufwendige Erziehungsarbeit zu finden. Doch die kluge, energische und idealistische Schulleiterin führte das Institut bis an ihr Lebensende unbeirrt weiter.
Am 2. Oktober 1910 musste sich Bertha von Petersenn in Kreuzlingen einer Blinddarmoperation unterziehen, an der sie verstarb. Sie wurde auf dem Schulgelände beigesetzt; ihr Grabstein steht dort noch heute.
Danach bekam Bertha von Petersenns Institution immer wieder neue Trägerschaften. Seit dem Jahr 1933 besuchen auch Jungen die Schule. 1946 wurde die Schule von Pfarrer Senges aus Wollmatingen als »Christliche Internatsschule« neu gegründet. Heute nennt sich die Einrichtung »Schloss Gaienhofen–Evangelische Schule am Bodensee«. Sie umfasst ein allgemeinbildendes Gymnasium mit Aufbaugymnasium, ein Wirtschaftsgymnasium, ein sozialwissenschaftliches Gymnasium und eine Realschule. Der Internatsbetrieb endete im Jahr 2013; heute wird die blühende Regionalschule mit rund 750 Schülerinnen und Schülern von der Schulstiftung der Evangelischen Landeskirche in Baden betrieben.
Literatur:
Lorenz Rönnebeck: Gedenken an das Gründerehepaar Georg und Bertha v. Petersenn. Rede des Urenkels am 27.3.2015 in Gaienhofen. www.schloss-gaienhofen.de
Friedrich Kleinhempel: Bei Licht und Luft in ländlicher Lage: Bertha von Petersenn gründete in Groß-Lichterfelde das Deutsche Landerziehungsheim für Mädchen. In: Neues Deutschland, 29.05.2007.
Aus: Chris Inken Soppa: Über Jede Grenze hinweg – Bemerkenswerte Frauen am Bodensee. Meßkirch 2021